Spieltage
sich an ihren Enden. Er sah nach Sommer aus.
Das letzte Licht eines milden Augusttags fiel ins Stadion. Der Gegner 1860 München war, nach zwei Spieltagen der neuen Saison, Tabellenerster, das Spiel wurde live im Deutschen Sportfernsehen übertragen, montagabends. Heinz Höher schaltete zu Hause den Fernseher ein und wurde vor den Kopf geschlagen. Juri spielte! Davon hatte der Junge doch selbst noch nichts gewusst, als er gestern mit ihm telefoniert hatte.
Der Schiedsrichter pfiff, und das Spiel brach über Juri herein. Alles war schneller, enger, heftiger, als er es aus der A-Jugend gewohnt war. Er hatte das Gefühl, dem Spiel ständig hinterherzurennen, und derart gehetzt, merkte er kaum, wie viel er richtigmachte. Er rannte im defensiven Mittelfeld nach links, nach rechts, versperrte den Raum, ging donnernd in den Zweikampf, mal traf er den Ball, mal den gegnerischen Knöchel, gelegentlich waren Ball und gegnerischer Fuß auch schon wieder weg. Als der Trainer Juri Judts erstes Spiel im Profifußball nach 81 Minuten mit seiner Auswechslung beendete, prasselte der Applaus wie ein heißer Sommerregen hernieder. Greuther Fürth eroberte ein ehrenwertes 2:2 gegen den Tabellenführer. Die Nürnberger Zeitung schrieb: »Juri Judt rechtfertigte das Vertrauen des Trainers mit einer resolut-respektlosen Vorstellung im defensiven Mittelfeld.« Über dem Spielbericht prangte ein Foto: Der Münchner Marcel Schäfer flog hoch durch die Luft, das halbe Gesicht bestand aus dem schmerzhaft weit aufgerissenen Mund. Links unter ihm schlitterte Juri Judt über den Rasen, der Körper pure Dynamik, den rechten Fuß, der Schäfer von den Beinen geholt hatte, noch ausgestreckt.
Zu Hause vor dem ausgeschalteten Fernseher dachte Heinz Höher, Juri und er hätten keine Zeit, stolz zu sein. Sie mussten die Spielsituationen analysieren, sie mussten weitertrainieren. Er fühlte nur einen lange nicht mehr gespürten Schwung, fast hätte er gesagt: Übermut.
Juris Eltern schenkten Herrn Höher ein Lächeln und ein Wort: Danke. Wie die meisten, denen man in einem fremden Land geholfen hatte, glaubten sie daran, dass Dankbarkeit ewig währen sollte. All die Jahre hatten sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen gespürt, wenn sie sahen, wie rührig sich Herr Höher um Juri kümmerte. Wäre das nicht ihre Aufgabe gewesen?
Heinz Höher hätte jetzt Juris Großvater gerne gesehen. Der Großvater hatte Juri als Kind immer zum Training und Spiel bei den Bayern Kickers gebracht, dreimal die Woche war er mit der U-Bahn aus Nürnberg-Langwasser zunächst in die Schäufeleinstraße gefahren und dann mit dem Kind zum Sportplatz am Stadtrand gelaufen. Als Juri zu Greuther Fürth wechselte, kam der Großvater nicht mehr. Warum kommst du nicht mehr, fragte ihn Juris Mutter, Juri spielt phantastisch. Ach, sagte der Großvater, früher war es viel schöner. Als Juri noch alleine eine ganze Mannschaft ausspielte.
Der Satz klang wie: Als Juri noch wie ein Kind spielte. Als Juri noch nicht unter all den Vorschriften und Anweisungen auf eine Profikarriere getrimmt wurde.
Wenn Heinz Höher ein Gedanke durch den Kopf ging, rief er Juri um 23 Uhr an. Er dachte nicht daran, wie viel Uhr es war, sondern nur daran, dass er im Fernsehen beim Champions-League-Spiel des FC Barcelona gesehen hatte, wie geschickt sich dessen defensiver Mittelfeldspieler Rafael Márquez in den Angriff schlich. Wenn Juri freitagabends in Koblenz oder Jena spielte, rief Heinz Höher am Samstag um sieben am Morgen an. Doris sagte, denk doch auch mal an den Jungen. Sie und Thomas machten sich Sorgen, dass er Juri zu sehr vereinnahmte.
Juri sagte nichts. Er hatte Herrn Höher doch so viel zu verdanken.
In der Umkleidekabine lachte Juri, wenn die anderen scherzten. Er machte keine Scherze. Er war dabei. Mit der Selbstverständlichkeit außergewöhnlicher Talente behauptete er den Platz in der Elf, den er im September 2005 auf Probe erhalten hatte. Er spielte seine Debütsaison und schon die Rolle eines Routiniers: der Halt im defensiven Mittelfeld.
Von seinem ersten Profigeld gab er seinen Eltern jeden Monat ungefragt 500 Euro, damit sie aus der Schäufeleinstraße ausziehen konnten.
Für einen Profi in der Zweiten Bundesliga war es stets eine Errungenschaft gewesen, nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, für ein paar Jahre nur Fußball spielen zu dürfen und davon leben zu können. Im modernen Fußball wurde auch Zweitklassigkeit ein lohnendes Ziel. 8000 Euro Grundgehalt im Monat
Weitere Kostenlose Bücher