Spieltage
Weltmeisterschaft 1958 in Schweden hatten die europäischen Reporter elektrisiert, denn sie schienen eine andere Formation zu spielen, mit vier Abwehrspielern, zwei Mittelläufern und vier Stürmern. Als die europäischen Reporter Brasiliens dicken, schwitzenden Trainer Vicente Feola auf der Pressekonferenz vor dem WM-Finale in Schweden wieder und wieder nach dem neuen Spielsystem fragten, schien der jedoch nicht zu verstehen, worum es ging. Was meinten sie mit all diesen Zahlen, fragte Feola, als ständig 4, 2 und 4 um ihn herumschwirrten. Bundestrainer Herberger, der die Pressekonferenz besuchte, weil sie eine einmalige Chance bot, die Ausführungen eines südamerikanischen Spitzentrainers zu hören, stieß seinen Assistenten Dettmar Cramer unter dem Tisch mit dem Fuß an. Jetzt merkten die Journalisten mal, wie pseudowissenschaftlich ihre Versuche waren, Taktik und Spielsystem festzuschreiben!
Ach, meinte Feola schließlich, sie meinten vier Verteidiger, zwei Mittelläufer, vier Stürmer?
In Brasilien zählen wir nicht. Wir spielen nur. Aber wenn sie unbedingt die Elf zerteilen wollten, dann wäre die Beschreibung 4-2½-3½-System richtig. Linksaußen Zagalo wurde bei gegnerischem Ballbesitz zum Mittelfeldspieler.
Auch das schien in Deutschland sensationell: ein Spieler in doppelter Rolle. Hierzulande blieben die Fußballer in ihrem Revier und spielten Mann gegen Mann, zehn kleine Gefechte auf dem Rasen, die Außenverteidiger bewachten die Außenstürmer, der rechte Läufer den linken Halbstürmer und so weiter. Verlor ihr Team den Ball, durften die Stürmer stehen bleiben. Sie mussten keine Defensivarbeit verrichten. Die fünf Abwehrspieler dagegen konnten in der eigenen Hälfte warten. Sie sollten nur verteidigen.
Durch die Entdeckung des brasilianischen Systems begann auch das deutsche Dogma vom W und M aufzuweichen. Eintracht Frankfurt spielte 1963 oft im 4-2-4-System, und bei einigen Bundesligisten schalteten sich nun die Außenverteidiger, sogar die Läufer in den Angriff ein. Als Rudi Gutendorf beim Auswärtsspiel in Bremen zum taktischen Experiment schritt, ging er jedoch nicht vorwärts, sondern weit zurück in der Zeit. Er erweckte den verschrienen Doppelstopper wieder zum Leben.
Gutendorf löste den Linksaußen auf und installierte den frei gewordenen Spieler im Abwehrzentrum neben dem Stopper. Entwischte ein gegnerischer Stürmer, konnte sich der neue Zusatzverteidiger sofort als zweite Barriere vor ihm aufbauen.
Die Einzigen, die an diesem sehr defensiven System Spaß hatten, waren die Boulevardjournalisten. »Rudis Riegel« taufte die Bild- Zeitung das System. Schon bald wurde daraus Gutendorfs Spitzname »Rudi Riegel«. Die Jahrzehnte vergingen, aber der markante Spitzname blieb, und irgendwann, nach tausend Überlieferungen, hatte sich der Irrglaube verankert, Rudi Gutendorf habe das Riegel-System erfunden. So wird heute, 50 Jahre später, in etlichen Büchern und Zeitungsartikeln geschrieben, Rudis Riegel sei 1963 eine sensationelle, richtungsweisende taktische Neuerung gewesen. Nichts könnte ferner von der Wahrheit liegen.
Der Doppelstopper war seit den Dreißigerjahren ein so banales wie bewährtes Mittel in der Not. Heinz Höher hatte es in Leverkusen einige Male nach schlechten Resultaten erlebt, wie ein Außenstürmer zur Stärkung der Verteidigung geopfert wurde. Und dass irgendjemand Gutendorfs Umstellung sensationell fand, kann auch nicht gerade behauptet werden.
»Schon am fünften Spieltag der Bundesliga wurde ein Begriff zu neuem Leben erweckt, den man gerne aus dem Sprachschatz des deutschen Fußballs verbannt gesehen hätte«, begann die Süddeutsche Zeitung ihren Bericht von Meiderichs 1:1 gegen Werder Bremen: »Der Meidericher SV wandte die verpönte Methode des Doppelstoppers an, die vor 20000 enttäuschten Zuschauern die Leistungen auf ein erschreckend niedriges Niveau absinken ließ.«
Als die Reporter der Fußballillustrierten Kicker und Sport-Magazin wie gewohnt nach dem Spiel den Trainer für ein Interview an der Tür der Umkleidekabine trafen, erlebten sie Werders Trainer Willy Multhaup in Zukunftsangst: »Wenn solche Defensivtaktiken mit Doppelstopper noch mehr Schule machen, dann spielen wir bald vor leeren Rängen! Die Zuschauer sind unsere Brötchengeber, und nun sind wir schon drauf und dran, sie zu vergraulen!«
Heinz Höher, der dank Rahns Abwesenheit wieder einmal wie in Leverkusener Zeiten statt der linken die rechte Angriffsflanke besetzen durfte,
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