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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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ihm wieder in den Sinn. Er hatte gehofft, sie längst vergessen zu haben. Mit einem wuchtigen Dribbling bricht er durch die Deckung des VV Maastricht, es ist Mai 1966, der vorletzte Spieltag der niederländischen Ehrendivision, er flankt flach in den Strafraum. Und keiner von Twente Enschedes Stürmern bemüht sich, seine ideale Vorlage zu erreichen. Konsterniert schaut Heinz Höher auf. Heinz, brüllt ein Mitspieler und gibt ihm ein Zeichen: Mit seinen flachen Händen wischt der Mitspieler kurz durch die Luft. Schluss jetzt. Heinz Höher versteht nichts und glaubt gleichzeitig alles zu verstehen: warum Twentes Torwart kurz zuvor einen Gegner schlug, als bettele er um einen Platzverweis, warum es nach einer souveränen 2:0-Führung plötzlich nur noch 2:2 steht, warum seine Mitspieler permanent den Ball verlieren. Für Twente geht es um nichts mehr, Maastricht braucht den Sieg, um den Abstieg abzuwenden.
    Heinz Höher lehnt sich auf. Er dribbelt wie von Sinnen. Aber niemand will seine Flanken. Heinz Höher klagt nicht, er klagt niemanden an, er rennt weiter, er selbst fühlt: wie in Panik. Kurz vor Abpfiff stolpert einer von Twentes Verteidigern im eigenen Strafraum und gewährt so Maastrichts Stürmer Michel Thal freie Bahn zum Tor. Heinz Höher glaubt gesehen zu haben, warum der Mitspieler stolperte: weil er sich selbst ein Bein stellte. Thal gelingt das Tor zu Maastrichts 3:2-Sieg.
    Heinz Höher hat bereits geduscht, als ein Maastrichter Spieler mit einer Plastiktüte in Twentes Umkleidekabine erscheint. Er geht von Mann zu Mann. Als ob er Bonbons verteile, greift er für jeden in die Tüte. Die Geldscheine fühlen sich heiß an in Heinz Höhers Hand.
    Sie zu verweigern ist keine Alternative. Menschen in einer Gruppe trauen sich selten, aus der Reihe zu tanzen, und erst recht nicht in einer Fußballmannschaft, wo es doch immer darum geht dazuzuhören, loyal zu sein, sich durch die Gruppengemeinschaft gegenseitig zu bestätigen, dass man cool ist, dass man niemals unsicher ist.
    Hastig schiebt Heinz Höher die Scheine in die Hosentasche. Exakt zählt er sie erst zu Hause. Es sind 320 Gulden. 250 Gulden hätte er als Siegprämie erhalten, wenn sie das Spiel ganz normal gewonnen hätten. Für einen Mehrgewinn von 70 lächerlichen Gulden, umgerechnet 77 Mark, hat er Schande über sich gebracht. Er hat etwas getan, von dem er sich sicher war, es nie zu tun, und weiß nicht einmal, warum.
    Er war beim Spiel in Maastricht eher ein stillschweigender Dulder als ein Täter, aber er kennt keine Gnade mit sich: Allein mit sich selbst, nennt er sich Betrüger, Verbrecher.
    Realistisch musste er nicht fürchten, dass im Zuge der Ermittlungen über die verschobenen Bundesligaspiele im Juni 1971 der Betrug in einer fünf Jahre alten Partie in den Niederlanden entdeckt würde. Aber es mussten ihn auch nicht irgendwelche Kommissionen oder Medien überführen; es reichte, dass er sich selbst überführt hatte, dass die Konfrontation mit Manglitz’ Schiebereien ihn an die eigene, verdrängte Schmach erinnert hatte. Die Enthüllungen, die sich in den Monaten nach dem 6. Juni zum Bundesligaskandal ausweiteten, erlebte Heinz Höher in Duckstellung, mit der latenten Sehnsucht, es möge endlich vorübergehen.
    Fast zwanzig Spiele aus der Schlussphase der Bundesligasaison 1970/71 gerieten in Verdacht, verschoben worden zu sein. In einem irrsinnigen Wettlauf mit Geldkoffern hatten die Abstiegskandidaten Arminia Bielefeld, Kickers Offenbach und Rot-Weiß Oberhausen versucht, sich den Klassenerhalt zu erkaufen. Ein vierter abstiegsbedrohter Verein, Eintracht Frankfurt, dachte zumindest darüber nach, dem eigenen Glück mit Geld nachzuhelfen. Korruption war keine Ausnahme mehr, sondern ein allgemein akzeptiertes Mittel, und vermutlich hatte die Einführung der Bundesliga ihren Anteil an dieser Entwicklung. Im achten Jahr nach Gründung der nationalen Spielklasse hatte die Zugehörigkeit zur Bundesliga gesellschaftlich und wirtschaftlich solch eine Bedeutung erlangt, dass manche Vereinsmacher alles dafür taten, um bloß dabeizubleiben. Bei einem Abstieg in die Regionalliga drohte der Umsatz von drei Millionen auf 300000 Mark zu sinken, das sah angesichts der Schulden, die 16 von 18 Bundesligisten angehäuft hatten, für viele Vereinsfürsten wie der Ruin aus. Beim Sturz aus der Bundesliga musste ein Verein fürchten, alle passablen Spieler zu verlieren, die Lizenzspielerverträge galten nach DFB-Recht exklusiv für die Bundesliga, mit dem

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