Spieltage
noch Kurt Lavall vor mir, der die Bundesligazusammenfassung machen sollte und aufgeregt rief: Ich brauche noch ein Tor! Hat niemand mehr ein Tor?
Während die Titelmelodie des Aktuellen Sportstudios am 30. November 1974 ausklang, kam auch schon Carmen Thomas die Treppe auf einer der Tribünen hinunter. Ihre dunkelgraue Flanellhose lag an den Hüften und Oberschenkeln hauteng an und lief an den Unterschenkeln mit enorm weitem Schlag aus. Dazu trug sie ein blau-weiß-rot quer gestreiftes Hemd mit zwei schwarz-grellgrünen Längsstreifen, die wie Hosenträger wirken sollten, aber auf der Bluse aufgedruckt waren. In ihren Haaren leuchteten – die neueste Sensation aus den Friseursalons – blonde Strähnchen. Sie war 28. Ohne zu heiraten, war sie, als Frau, von zu Hause ausgezogen und bewohnte mit ihrem Freund in Köln eine Maisonettewohnung.
Etliche Männer im Publikum fanden sie charmant. Einige Frauen hielten sie heimlich für eine von ihnen. Viele Männer fanden, sie sollte lieber mal ihrem Verlobten ein ordentliches Abendessen kochen, oder war sie nicht mal verlobt? Viele Frauen fanden sie schrecklich herausgeputzt.
Sie war von ZDF-Sportchef Hanns Joachim Friedrichs explizit als Moderatorin ausgewählt worden, weil sie eine Frau war.
Die Frauenbewegung wühlte Deutschland seit 1971 auf. Im Juni 1971 hatten 374 Frauen auf dem Titel des Sterns erklärt: Wir haben abgetrieben! Was nach Gottes Wort und Paragraf 218 des Grundgesetzes verboten war. Alice Schwarzer veröffentlichte ihre Streitschrift Frauenarbeit – Frauenbefreiung, in der sie darlegte, die Gleichberechtigung sei nur zu erreichen, wenn die Frauen stärker in die Berufe außerhalb des Haushalts drängten und auch finanziell von den Männern unabhängig würden.
Für einen großen Teil der Bevölkerung war das ein frontaler Angriff auf ihr Leben, auf Adenauers Vision vom deutschen Idyll: Die Frau hängte glücklich lächelnd die Wäsche im Garten auf, während sie auf die Rückkehr des Mannes von der Arbeit wartete, um ihm das Abendessen zu kochen. In einer Zeit, in der in festen Gegensätzen gelebt wurde, Ost oder West, links oder rechts, Student oder Arbeiter, Bayern oder Mönchengladbach, drohte der Konflikt zwischen der Frauenbewegung und den Bewahrern der alten Männer-und-Frauen-Rollen der aufwühlendste Zusammenprall in der Bundesrepublik zu werden.
In diesem Klima wollte ZDF-Sportchef Friedrichs ein Zeichen setzen. Im Februar 1973 gab Carmen Thomas ihr Debüt im Sportstudio . Zum ersten Mal führte eine Frau im deutschen Fernsehen durch eine Sportsendung.
Im ZDF ahnte man, dass nicht alle darüber begeistert sein würden. Prophylaktisch gab der Sender eine Pressemeldung heraus: Carmen Thomas, die bis dahin in der Tagesmagazin-Redaktion des Dritten Programms gearbeitet hatte, sei selbst einmal Sportlerin gewesen, Kunstturnerin, »in ihrer Jugend errang sie den Titel einer Düsseldorfer Gau-Meisterin«, und »um bei den Zuschauern des Sportstudios nicht die Reaktion ›Na ja, eine Frau‹ auszulösen, will sie sich noch eine Portion Fachwissen aneignen«.
Carmen Thomas wollte eigentlich gerne als politische Redakteurin arbeiten. Sie hatte für das Tagesmagazin Beiträge über Abtreibung oder Selbstmord gedreht, es gab empörte Aufschreie, auch von Kollegen, über so etwas dürfe man nicht berichten, darüber rede man nicht! Das spornte sie an, sie kämpfte für ihre Berichte, eine engagierte Journalistin musste mit Widerstand rechnen. Das Angebot, das Sportstudio zu moderieren, kam so über sie. Das musst du machen, sagte sie sich, das ist ein avantgardistisches Format, mit Livegesprächen, mit Publikum im Saal, mit Kameras, die andere Kameramänner filmen, und wenn du dir dort einen Namen machst, kannst du danach in politischen Sendungen weiterkommen. Ein Jahr lang hatte ihr Friedrichs die Sportmeldungen der Nachrichtenagenturen in die Tagesmagazin-Redaktion geschickt, und dann sollte sie mal machen.
Es gab keine Schulung, wofür auch, entweder man konnte moderieren, oder man konnte es nicht. Stattdessen gab es montags die Redaktionskonferenz. Dort wurde kritisiert. Was gut war, musste man doch nicht erwähnen. Sie trete zu rechthaberisch in den Interviews auf, riefen die männlichen Kollegen, sie verstehe nicht, dass sie im Sportstudio keine investigative Ausquetscherin, sondern eine Gastgeberin sein müsse. Sie behandle die Sportler zu selten wie Gäste. Schneit hier einfach so rein und darf unser Sportstudio moderieren, dachten einige
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