Spieltage
Trainingslager für ein Freundschaftsspiel? Präsident Wüst, der seinen Fußballlehrer mittlerweile duzte, versuchte so sachlich wie möglich zu klingen.
Ja, es sei trainingswissenschaftlich wichtig, die Mannschaft mal richtig müde zu trainieren und unmittelbar anschließend ein Testspiel zu bestreiten, entgegnete Heinz Höher: So lerne der Körper, seine autonomen Reserven abzurufen, die er für Notfälle speichere. Heinz Höher wusste, dass seine Worte Wüst nicht wirklich überzeugten; wo seine Argumente ihn doch selbst nicht überzeugten. Aber die Wahrheit konnte er selbstverständlich nicht sagen: Heinz Höher schleppte seine Mannschaft vor einem Freundschaftsspiel ins Trainingslager, damit er sich vor dem eigenen Umzug drücken konnte.
Nach acht Jahren in der Kaulbachstraße hatte er einsehen müssen, dass die Wohnung für eine Familie mit drei Kindern beim besten Willen zu klein war. Die Höhers zogen in ein Einfamilienhaus in der Bonhoefferstraße 42, weißer Klinkerstein und ein Stück Rasen vor der Tür. Das Gröbste war erledigt, die Kisten geschleppt, die Möbel aufgestellt, als Heinz Höher montagnachts aus dem Trainingslager in Wuppertal in das neue Zuhause heimkehrte.
Die meisten anderen Fußballtrainer mussten ständig von Stadt zu Stadt umziehen. Heinz Höher richtete sich in Bochum ein, als würde er für immer bleiben. Denn es gab aufregende Neuigkeiten.
Der VfL erhielt ein neues Stadion. 1975 hatte das Land Nordrhein-Westfalen in einem Konjunkturprogramm kurzfristig Millionen für einen Stadionbau frei gemacht. In vier Etappen würde im Stadion an der Castroper Straße eine Tribüne nach der anderen umgebaut. Wenn alles nach Plan verlief, spielte der VfL in drei Jahren, 1979, in einem runderneuerten Stadion. Er würde, träumten Höher und Wüst, ein ganz neuer, stärkerer Klub sein. Fünf Mark pro Eintrittskarte blieben dem VfL in seinem alten, verrumpelten Stadion im Schnitt; die Konkurrenz wie Dortmund oder Schalke verbuchte in den modernen Weltmeisterschaftsarenen von 1974 pro Zuschauer das Doppelte.
Die Zukunft war der VfL, glaubte Höher, zumal nach einem Schlussspurt in der Bundesligasaison 75/76, der nicht nur ein Ereignis, sondern ein Erweckungserlebnis gewesen war.
Im März 1976 musste der VfL aus seinem Stadion raus. Im ersten Bauabschnitt, dem Abriss und Neubau der Südtribüne, wurde die Anlage komplett gesperrt. In der Tat half Heinz Höher ein bisschen nach, damit das Stadion schon ein wenig früher unbenutzbar war. Das Heimspiel gegen Schalke 04 Ende Februar konnte nach heftigem Schneefall auch schon nicht in Bochum ausgetragen werden und wurde nach Dortmund verlegt, aber was Höher mit dieser Absage zu tun hatte, sollte ein Geheimnis bleiben.
Von der Partie gegen Schalke abgesehen, trug der VfL seine verbliebenen sechs Heimspiele im Stadion am Schloss Strünkede in Herne aus. Heinz Höhers Mannschaft hatte keine Heimat mehr und auswärts seit anderthalb Jahren kein Spiel mehr gewonnen. Der Trainer schob die Spieler wie gehabt quer durch alle Positionen, ohne ihnen viel zu erklären, Hermann Gerland spielte mal Rechtsaußen, mal Vorstopper, der Libero hieß mal Hartmut Fromm, mal Klaus Franke, mal Jupp Tenhagen, aber was Monate zuvor noch als geniale Tüftelei gegolten hatte, wurde vom Bochumer Publikum nun als chaotischer Aktivismus verteufelt. Der VfL stand Anfang Mai, fünf Spieltage vor Saisonschluss, auf einem Abstiegsplatz.
Heinz Höher bat zwei Tage vor dem Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt vor dem Tor der Bochumer Opel-Werke um Hilfe. Wieder so ein Aktivist mit seinen Flugzetteln, vermutlich von der DKP oder irgendwelchen anderen Verwirrten, mussten die Opel-Arbeiter aus der Ferne denken. Auch aus der Nähe erkannte nicht jeder den Bochumer Trainer, manch einer nahm das Flugblatt rasch mit gesenktem Kopf entgegen und stopfte es ungelesen in die Jackentasche, als schäme er sich, in die Nähe von diesem Eiferer zu treten.
Auf dem Flugzettel stand ein Bericht über die dringliche Lage des VfL Bochum, der doch in seinem Spiel die Werte des Ruhrgebiets zum Ausdruck bringe, Kraft, Leidenschaft und unbändigen Willen. Der Heimat wegen des Stadionumbaus beraubt, brauche der VfL in dramatischer Abstiegsnot mehr denn je die Hilfe der Zuschauer, der Bochumer. Nicht auszumalen, wenn das neue, schmucke Stadion nach so vielen Jahren des Wartens endlich fertig würde und der VfL dann gar nicht mehr in der Bundesliga vertreten wäre. Kommen Sie am Samstag nach Herne! Helfen
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