Spieltage
als Emanzipation verstünden.
Konnte der VfL auch so einfach zum Alltag übergehen? Der Trainer war zurück, aber das Ausgangsproblem geblieben: Es fehlte ein Torjäger. Schwemmle, der als junger Mann im Trikot des VfB Stuttgart den Bochumern öfter lästig geworden war, wurde für 100000 Mark tatsächlich verpflichtet und hatte Anpassungsprobleme. Kleingeld für einen zweiten neuen Stürmer aus den unteren Ligen war noch vorhanden, aber das durfte kein Schnellschuss werden, die Wahl musste sitzen. Unterdessen versuchte sich Heinz Höher an der naheliegendsten und gleichsam unmöglichsten Lösung: Er ließ in den ersten Partien nach dem Beinbruch die doch obligatorische Position des Mittelstürmers unbesetzt. Bei jedem Angriff des VfL sollte immer ein anderer der Mittelfeldspieler und Flügelstürmer auf die Position vor dem Tor vorstoßen, erklärte Höher. Das verlangte eine enorme geistige und körperliche Beweglichkeit. Das gehe nicht, sagten die Experten.
Im ersten Heimspiel nach Kaczors Beinbruch gegen Hertha BSC landete der VfL mit 5:0 den höchsten Bundesligasieg seiner Geschichte. Von überall kreuzten Bochumer vor dem Tor auf, mal Verteidiger wie Hermann Gerland, mal Mittelfeldspieler wie Lothar Woelk, ständig Dieter Bast, der zwei Tore erzielte. Die Berliner verloren die Ordnung und Orientierung angesichts der permanenten Bochumer Positionswechsel. »So stark habe ich den VfL noch nie gesehen«, sagte Herthas Trainer Kuno Klötzer im verrauchten Presseraum. »So voller Dynamik, Wucht und Schwung und dazu mit einem großartigen Spielverständnis.«
Heinz Höher sagte, das habe er doch prophezeit: Seine Elf würde zunächst über sich hinauswachsen. Doch auf Dauer könne niemand permanent über seine Grenzen gehen.
Nachts kam wieder einmal Winzlinger zu Besuch, der Herr über seine Ideen.
Und, kannst du wieder nicht schlafen?
Gut bemerkt, Winzlinger!
Was treibt dich um?
Die Journalisten sind hinter mir her. Die Frankfurter Allgemeine nannte mich wegen meines Drei-Tage-Rücktritts ein Sensibelchen, und die WAZ spottete, Heinz Höher, das Seelchen der Bundesliga, fühle sich immer zu Saisonbeginn etwas anfällig.
Das klingt fast, als ob sie dir auf die Schliche kämen.
Die Wahrheit dürfen sie nie erfahren, Winzlinger, sonst bin ich geliefert.
Die Wahrheit?
Mein Rücktritt war vom ersten Moment an nur ein Bluff. Ich wollte Ottokar Wüst unter Druck setzen, damit er das Geld für neue Stürmer auftreibt.
In der Nachbarstadt Herne fand Heinz Höher Bumbum. »Heeee, Jochen Abel, bumbum«, sangen die Fans von Westfalia Herne, und Abel, 25, reaktionsschnell, listig, schoss in der Zweiten Bundesliga Tore, als wäre es wirklich so einfach wie im Kinderreim, im Schnitt jedes zweite Spiel ein Tor. War das der Mann, auf den Bochum wartete?
Alle Bundesligisten gingen in den zugigen Stadien der Zweiten Liga und den Bezirkssportanlagen der Amateurklassen auf Schatzsuche. Wenn ein talentierter Fußballer nicht zufällig in der Stadt oder im Vorort eines Bundesligisten lebte, war es wahrscheinlich, dass er mit 20 noch in der Amateuroberliga oder auch Bezirksliga kickte. Bayern München fand Karlheinz Rummenigge 1974 beim Viertligisten Borussia Lippstadt. Was ein Bundesligist brauchte, war ein Spielausschussobmann wie Bochums August Liese, den – weil es der Auli war – die alten Kollegen und Gegner anriefen, Mensch, ich habe bei mir im Ort in der Verbandsliga heute einen Stürmer gesehen! Das Bier und der Klare gingen auf Lieses Rechnung, wenn sie sich dann das nächste Mal im Verbandsligavereinsheim sahen.
Heinz Höher liebte dieses Pochen, wenn er nach einem Tipp von Auli Liese in einem Spieler etwas sah, was nur wenige erkannt hatten. Allenfalls unbewusst nahm Heinz Höher wahr, dass es noch einen Grund gab, warum er so gerne mit unterklassigen Neuzugängen arbeitete. Sie verspürten ihm gegenüber Respekt und eine natürliche Dankbarkeit; er hatte sie da rausgeholt. Anders als bei gestandenen Bundesligaprofis musste er bei ihnen kaum Angst haben, dass sie gegen seine wortkarge, schrullige Art rebellierten.
Der Klang des Bumbum wehte von Herne nach Bochum. Nach seinem Wechsel im Oktober 1977 zum VfL traf Jochen Abel in der Bundesliga einfach weiter ins Tor, 15 Tore in den verbleibenden 20 Spielen der Saison 77/78. So rettete sich der VfL Bochum auch nach Kaczors Ausfall ein weiteres Jahr vor dem Abstieg. Die Sportreporter verfielen in den bekannten Reflex und priesen den unglaublichen Bochumer Kraftakt.
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