Spieltage
aber bei aller Liebe, der Borner übertrieb es, verdammt noch mal! Am 27. Oktober 1977 erhielt der Chefredakteur der Ruhr Nachrichten einen Leserbrief von Günter Traube aus der Alten Bahnhofstraße 49 in Bochum.
Sehr geehrter Herr Dr. Jungermann!
Ich weiß nicht, inwieweit Sie sich für das Wirken Ihrer Lokalredakteure verantwortlich fühlen; glaube aber, daß ich als langjähriger Leser Ihrer Zeitung Ihnen diese Zeilen schuldig bin.
Was sich Franz Borner seit Monaten, ja ich möchte sagen, seit über einem Jahr mit dem Trainer des VfL Bochum erlaubt, ist infam, grenzt beinahe an Rufmord; man wird das Gefühl nicht los, dass da persönliche Dinge reinspielen.
Der Fußball lebt von Überraschungen und Sensationen, große Mannschaften verlieren, der VfL Bochum als mittelmäßige Mannschaft eben häufiger. Was Franz Borner bei Niederlagen des VfL über dessen Trainer ausschüttet, ist Dreck und Schmutz, unsachlich und geht an jeder konstruktiven Kritik meilenweit vorbei. Selbst ausgesprochene Höher-Gegner sind – wie ich aus meinem Bekanntenkreis weiß – peinlich berührt. Ich werde auch in Zukunft nicht auf die Lektüre Ihrer Zeitung verzichten, aber in den Bochumer Sportteil habe ich zum letzten Mal geschaut.
Mit freundlichen Grüßen,
Günter Traube
Heinz Höher schrieb noch drei weitere Leserbriefe unter fiktiven Namen und Adressen an die Ruhr Nachrichten. Wie bei all seiner Korrespondenz tippte Doris die Briefe für ihn. Das Schreiben des Günter Traube rundete er mit einem Postskriptum ab:
PS: Ich kenne Herrn Borner nicht persönlich. Der plötzliche Wechsel in manchen Artikeln zwischen gekonnten Passagen und wirrem Zeug legt jedoch den Verdacht nahe, daß diese Edikte im Zustand höchster Trunkenheit geschrieben wurden.
Du kannst hier so lange bleiben, wie du willst, wiederholte Ottokar Wüst, wenn die Kritik Heinz Höher entgegenschlug. Aber täuschte er sich, oder hatte Heinz Höher diese Versicherung schon länger nicht mehr von Wüst gehört?
Weitermachen, sagte sich Heinz Höher, nächstes Jahr würde das neue Stadion fertig. Und so machte er weiter: Vor einem Heimspiel gegen Bayern München bestellte er am Samstagvormittag die Mannschaft zur üblichen Taktikbesprechung in den Tagungsraum des Hotels. Alle kamen, nur Heinz Höher nicht. Die Mannschaft wartete, fünf Minuten, zehn Minuten. Dann wurde August Liese zur Hotelrezeption gerufen, Telefon.
Dreh mal die Taktiktafel um, sagte Heinz Höher zu Liese und legte auf.
Liese drehte die Tafel um.
Dort standen nur fünf Wörter: Happ, Happ. Esst sie auf!
Ein anderes Mal hörte Heinz Höher in der Nacht vor einem Bundesligaspiel Lärm im Haus Juliana. Er trat in den Hotelflur. Aus dem Zimmer von Paul Holz drangen die Stimmen von Kartenspielern.
Sieh mal an, sie haben sich das Zimmer am Ende des Gangs ausgesucht, damit ich sie nicht höre, dachte sich Heinz Höher nicht ohne Anerkennung und setzte sich auf einen Stuhl in den dunklen Gang. So wartete er, er konnte nicht genau sagen, wie lange, bis eins, bis halb zwei, stumm auf seinem Stuhl im Gang. Am nächsten Tag spielten sie gegen Eintracht Frankfurt. Schließlich öffnete sich Paul Holz’ Zimmertür. Jürgen Köper, Jochen Abel, Heinz-Werner Eggeling schlichen an Höher vorbei. Sie sahen den Trainer, der Trainer sah sie. Keiner sagte ein Wort.
Heinz Höher glaubte, dies sei die wirkungsvollste Art, die Spieler schuldbewusst zu stimmen und eine Reaktion morgen auf dem Spielfeld herauszukitzeln. Sie schlugen die Eintracht.
Der VfL weckte auch im siebten Jahr unter Heinz Höher kurzzeitig Hoffnung auf den großen Sprung, sah kurz darauf wieder sehr bieder aus und hielt sich die gesamte Saison achtbar in der Mittelklasse der Bundesliga. Was sich Ende der Siebziger schleichend veränderte, war nicht der VfL, sondern die Bundesliga: Sie wurde nicht mehr mit dem Glanz der Nationalelf, der Bayern und Gladbacher in Verbindung gebracht, sondern mit dem Fußball à la Bochum. Das auf Kraft, Ausdauer und Wille beruhende Spiel des VfL, taktisch enorm schlitzohrig, aber grundsätzlich auch defensiv orientiert, mit allenfalls zwei Stürmern, gewann schleichend die Oberhand. Heinz Höher hatte die Spielart als spezielle Verteidigung eines Vereins mit wenigen Rekursen konstruiert. Hatten die kleinen Mannschaften wie Bochum in den späten Siebzigern den großen ihren Stil aufgezwungen?
Angestrengt suchte die Nationalelf die vergangene Schönheit. Aber sah der Bundestrainer nicht, was Heinz Höher sah?
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