Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Freitag, den sechzehnten Juli 2004 ihren Abschluss finden würden. Nur Alev hatte nichts vergessen. Die Stärke eines Spielers besteht darin, sich jede Einzelheit merken zu können.
    Von der Disziplinarkonferenz erfuhr ausgerechnet Smutek als Letzter. Am Montagnachmittag nach der Faschingswoche bat er Ada zum Laufen und schlug vor, die üblichen Kreise zu durchbrechen und der Rheinpromenade Richtung Oberwinter zu folgen. Diesmal war er es, der vor etwas davonlaufen musste, und er konnte dabei den buckligen Dächerrücken des Schulgebäudes über den kahlen Baumkronen nicht gebrauchen. Ada war es recht. Die Wiese knirschte, als würde jedem einzelnen Grashalm unter ihren Schritten das Rückgrat gebrochen.
    Die Zeiten, da der Rhein im Februar Eisschollen geführt und die Menschen tagelang mit seiner maschinenhaft röhrenden Stimme in Atem gehalten hatte, waren lang vorbei. Jetzt zogen graue Wassermassen an der Stadt vorbei und erinnerten Smutek an die Weichsel bei Krakau, die wegen Abwassereinleitungen aus den Eisenhütten Nowa Hutas seit Jahrzehnten nicht mehr gefror. Er dachte an den Moment, in dem seine Mutter nach der Mitteilung vom angeblichen Gefängnistod ihres Sohnes in die winterlichen Fluten gesprungen war, um ihr heißgelaufenes Gemüt endgültig abzukühlen. Fast war ihm, als hätte er die schreckliche Nachricht mit jahrzehntelanger Verspätung erst soeben erhalten.
    Sie passierten die Anlegestelle der Fähre und den Kiosk, dessen Pächter eine Menge Geld mit Currywurst verdiente, die er mit einer Haushaltschere in Räder schnitt, bevor er rötliche Sauce aus einer Plastikflasche darüber pumpte. Sie passierten das Rheinhotel mit seinem verfallenen Pomp, das überwinternde Freibad, die nächste Fährstelle. Bei Mehlem begann Smutek zu heulen und rannte schneller als sonst, so dass Ada anderthalb Schritte machen musste, wo er einen tat. Smutek bemerkte es nicht. Wovon er berichtete, entsetzte ihn im Moment des Erzählens mehr als in den Minuten des Erlebens. Nur für eins dankte er Gott, heulend, laufend, ohne auf Adas Anstrengung oder die Blicke der wenigen Passanten zu achten: dass seine Frau sich zu schwach gefühlt hatte, um ihn über Fasching nach Masuren zu begleiten. Er war überzeugt, dass sie andernfalls die Geschehnisse nicht überstanden hätte.
    Er hatte schon im Bett gelegen, als er sie im Garten hörte, auf der handgemähten Wiese, unter den Apfelbäumen vor seinem kleinen Haus, und wenn er irgendwann, in hoffentlich besseren Zeiten, vielleicht im Frühjahr unter einer wärmenden Sonne seiner Frau davon erzählen würde, wollte er behaupten, dass es Deutsche gewesen seien, obwohl es Polen waren, polnische Neofaschisten, die ihn für einen deutschen Touristen oder für einen Überläufer oder für einen Juden oder für was auch immer hielten. Als die Scheibe der Terrassentür zersprang, war er schon zum hinteren Eingang hinaus und rannte den Fahrweg entlang zur Landstraße. Eine Weile rannten sie ihm nach. Mit ihren dicken Beinen und runden Bäuchen, mit ihren Stiefeln und abgebrochenen Schaufelstielen wären sie auch einem entspannt trabenden Smutek nicht hinterhergekommen, und Smutek war schnell gewesen, so schnell wie er jetzt war, da er Ada fast abhängte, weil er das Poltern und Keuchen der Männer ein zweites Mal hinter sich zu hören glaubte. Als er sich umgedreht hatte, waren seine Verfolger längst in der Dunkelheit untergegangen.
    Auf der Rückbank eines Polizeiwagens, die lederne Jacke eines Wachtmeisters über die Schultern gelegt, war Smutek zurückgekehrt und hatte schon von der Landstraße aus den Schein eines Feuers am Horizont gesehen, ein warmes, orangefarbenes Leuchten unter einem orangefarbenen Mond, genau an der Stelle, wo sein kleines Haus gestanden hatte. Er schaute auf den See hinaus und zitterte, während sie auf die Feuerwehr warteten. Er betrachtete die kahlen Bäume am anderen Ufer, während sie die glühenden Gebeine löschten. Er sah schnell zur Seite, als schließlich das schwarze, nasse Skelett seines Häuschens in den Nachthimmel stak. Ganz aus Holz war es gewesen.
    Die Polizei fotografierte Hakenkreuze auf den Pfeilern der Gartenmauer. Sie waren allesamt verkehrt herum gemalt. Man klopfte Smutek auf die Schultern. Man reichte Pflaumenschnaps in Flachmännern. Am liebsten hätte er ihnen in die mitleidsvollen Mienen geschlagen und gebrüllt, moj domek przez to nie wroci, mein Häuschen wird davon nicht zurückkehren. Stattdessen verbrachte er eine schweigende

Weitere Kostenlose Bücher