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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wären vor allem eins.« Er gähnte, was nicht zu seiner enthusiastischen Art des Sprechens passte. »Sie wären Spieler.«
    Seine Rede wurde langsam und schwerfällig wie bei einem Betrunkenen, der Verstand aber spazierte leichtfüßig auf verschlungenen Wegen, die keine gerade Verbindung zwischen zwei Punkten zogen und dennoch verblüffend schnell zu den anvisierten Zielen führten. Ada las von seinen Lippen und verstand ihn wie eine Mutter ihr sprachgestörtes Kind.
    Nur im Spiel sei dem Menschen echte Freiheit möglich. Das Spielen verpflichte zur Gleichheit, da allen Spielern dieselben Voraussetzungen eingeräumt würden, und verwirkliche außerdem den Gedanken der Rechtssicherheit, weil ein Spiel nur innerhalb der eigenen Regeln stattfinden könne.
    »Freiheit, Gleichheit, Rechtssicherheit«, lallte Alev. »Das Spiel ist der Inbegriff demokratischer Lebensart. Es ist die letzte uns verbliebene Seinsform. Der Spieltrieb ersetzt die Religiosität, beherrscht die Börse, die Politik, die Gerichtssäle, die Pressewelt, und er ist es, der uns seit Gottes Tod mental am Leben erhält.«
    »Das also bist du«, sagte Ada auf Alevs Oberschenkel.
    »Spieler.«
    Mit den letzten Sätzen war Alevs Kraft zu Ende gegangen, er antwortete nicht mehr und hing mit offenen Augen Gedanken und Träumen nach, die er nicht im Gedächtnis behalten würde und die deshalb nur für die jeweilige Sekunde bestimmt waren. Ada strich ihm mit der flachen Hand über die Stirn, ganz leicht, als sollte er es nicht bemerken. Ab diesem Moment gehörten seine Nase, sein Mund, sein Körper, der Geruch seines Scheitels und die Wärme seiner Handflächen für eine Stunde ihr allein.
    Sie schloss ihn in die Arme. Ozeangleich türmte die Kälte sich über ihnen bis zu den Sternen, die als Lichtpunkte oben auf der Dunkelheit schwammen. Wo ihre Körper sich berührten, wurde es warm. Von irgendwoher traf ein Tropfen Ada an der Stirn, sie wischte ihn nicht ab, um die Situation nicht durch eine falsche Regung zu zerstören. Nie konnte man wissen, was bei der kleinsten Bewegung alles zuschanden ging. Mit der umschatteten Hellsicht eines Übermüdeten kurz vor dem Einschlafen sah sie das Universum vor sich, die Erde ein Elektron, das gemeinsam mit verwandten Teilchen um einen Atomkern kreiste, der sie alle mit Energie versorgte und zusammenhielt. E war m mal c 2 . Die Sonne im Zentrum hatte sich mit anderen Atomen zu einem Molekül zusammengeschlossen, dieses wiederum bildete mit gleichartigen Sonnensystemen eine Galaxie, vielleicht eine Zelle oder ein Kristall, und so war das, was den Menschen als Kosmos erschien, zusammengenommen nicht mehr als ein Tropfen Feuchtigkeit an der Spitze einer Hundeschnauze. Auch die Unendlichkeit war nichts als ein strukturelles Problem.
    Wie sollte man sich da fühlen. Innen warm und außen kalt. Glücklich. Bizarr.
    Kaum hat das neue Jahr seine Reisegeschwindigkeit erreicht, bedient es sich defätistischer Symbole
    D as neue Jahr hatte sich schwerfällig in Bewegung gesetzt, geriet in den ersten Januarwochen in Fahrt und ließ einiges an Altlasten auf den weiten Feldern der Vergangenheit zurück, wie es nach jedem Jahreswechsel geschehen muss, wenn die fetter werdende Menschheitsgeschichte nicht eines Tages vom eigenen Gewicht erdrückt werden soll. Das kollektive Großreinemachen in den Gedächtnissen zum Jahreswechsel ist Bürgerpflicht.
    Adas Mutter vergaß, dass ihr Kind von Drogen und Schlimmerem bedroht war, genoss die Lektüre des hervorragenden Halbjahreszeugnisses und hinterließ in Teuters Vorzimmer eine telefonische Mitteilung des Inhalts, dass ihre Tochter in jeder Hinsicht clean sei und sie als Mutter loyal zu ihr stehe. Smutek vergaß, dass er sich einst in einer funktionierenden Beziehung mit einer wunderbaren Frau geglaubt hatte, und wurde mühelos zu einem Mann, der sich um die Probleme seiner neurotischen Gattin kümmert. Er genoss das Laufen mit Ada und vergaß darüber seine Pläne, Ernst-Bloch zu einem Leichtathletikzentrum auszubauen. Ada vergaß, dass es einst ein Leben ohne Alev gegeben hatte und sie auch in diesem Leben morgens aufgestanden, zur Schule gegangen und am Nachmittag heimgekehrt war. Olaf vergaß, Ada auf Schleichwegen zurückgewinnen zu wollen, und beschränkte sich darauf, Alev zu hassen und das Schlimmste vorauszuahnen.
    Als das Jahr Mitte Februar seine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, war Platz geschaffen für die Ereignisse, die da kommen sollten und bis zur Gerichtsverhandlung am

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