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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Nacht auf der Pritsche einer Gefängniszelle, deren Tür man mit Absicht sperrangelweit offen gelassen hatte. Am nächsten Morgen begriff er, welches Glück es bedeutete, dass sich der Großteil seines Gepäcks schon im Kofferraum befand, weil er vor Sonnenaufgang hatte aufbrechen wollen. Er war trotzdem nicht in der Lage, sich darüber zu freuen. Die Polizisten überließen ihm den winzigen Waschraum, um sich den Brandgeruch aus den Haaren zu duschen und die Schatten aus dem Gesicht zu rasieren. Am frühen Abend kam er zu Hause an und erzählte seinem Schneewittchen kein Sterbenswörtchen von dem, was geschehen war.
    Smutek bemühte sich, an sein Haus nicht wie an einen geliebten Toten zu denken, den man immer dort erinnert, wo man ihn zuletzt gesund und glücklich sah. In der Brandnacht hatte er weggeguckt, jetzt wollte er hinschauen. Er wollte das verbrannte Gras riechen und dabei wissen, dass es, prächtig hochstehend, noch vor wenigen Monaten die Kniekehlen seiner Frau gestreichelt hatte. Er wollte im Geist über die im Aschematsch ertrunkene Terrasse gehen, auf der sie sich geliebt hatten, und die heruntergebrannten Wände betrachten, zwischen denen er Frieden und Ruhe gefunden hatte. Er brauchte einen Mitwisser, um sich selbst den Weg zu den Irrtümern abzuschneiden. Dafür gab es Ada, dafür musste sie seine Tränen sehen und seine erstickte Stimme hören. Als er fertig war, hatten sie Mehlem hinter sich gelassen und rannten Richtung Oberwinter aus der Stadt hinaus, stumm bis auf das unverständliche Gespräch ihrer Atemzüge. Irgendwann tat Ada den Mund auf und sprach zum ersten Mal während ihrer gemeinsamen Läufe ein paar Worte.
    »Wenn wir die erwischen«, sagte sie, »reißen wir ihnen mit den Zähnen die Halsschlagadern raus. Ich würde Ihnen dabei helfen.«
    Sofort berührte Smutek Ada an der Schulter, und sie kehrten um. Er war erschrocken über den Ernst, mit dem sie solche absurden Brutalitäten vorbrachte, um ihm den Rücken zu stärken. Auch das >Wir< erschreckte ihn und erst recht das Siezen, das ihn daran erinnerte, wer sie waren und wo. Er fing an, sich zu entschuldigen, verzeih mir, ich bin aus dem Gleichgewicht, bitte vergiss, ich hätte dir nichts erzählen dürfen. Das Schulgelände erreichten sie schweigend. Als sie sich trennten, blieb Ada einen Moment vor ihm stehen, bedeutete ihm, den Kopf zu senken, fasste mit Daumen und Zeigefinger nach seinem Kinn und drückte vorsichtig zu, die Stelle befühlend, auf die sie so oft gestarrt hatte.
    »Hassen Sie ruhig«, sagte sie.
    Sie schickte sich an zu gehen und wandte sich noch einmal um.
    »Haben Sie sich jemals erkundigt, warum ich von meiner alten Schule geflogen bin?« Das hatte er nicht. »Ich habe einem älteren Mitschüler mit dem Schlagring die Nase zertrümmert. Es war keine Notwehr, falls Sie das fragen wollten.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Ich weiß nicht genau. Vielleicht, dass der Junge mich zeit seines Lebens hassen wird. Er hat ein Recht darauf. So ist das unter Menschen.«
    Dann ließ sie ihn stehen und hatte kein Wort darüber verloren, dass ihr von Teuter am Morgen der Rausschmiss angedroht worden war.
    Die Konferenz floppt
    A nderntags lag ein Umschlag in Smuteks Fach. Für den übernächsten Tag sei eine außerordentliche Klassenkonferenz angesetzt. Es gab einen einzigen Tagesordnungspunkt: Disziplinarischer Schulverweis für die Stufenbeste. Smuteks Kopf sank herab, als hätte sich ein großes Tier in seinen Nacken gesetzt. Er stützte die Ellenbogen in das geöffnete Fach, als wollte er den Oberkörper in einen Gasofen schieben, und genoss für einen Moment die Dämmerung zwischen den eng stehenden Wänden. Die Kraft, um sich wieder aufzurichten, den Benachrichtigungszettel gefaltet in die Tasche zu schieben und sich auf den Weg zur ersten Klasse des heutigen Tages zu begeben, als wäre nichts geschehen, als gäbe es keine Menschen, die harmlose Holzhäuser niederbrannten, und niemanden, der sich für die Existenz einer Tartanbahn an dem Mädchen zu rächen versuchte, das am häufigsten darauf lief; als gäbe es auch keine Frau Smutek, die schweigend durch die Wohnung schlich, einen Gegenstand nach dem anderen umdrehte und zweimal in der Woche einem Psychiater erzählte, dass Smutek ein Land verkörpere, das ihr Familie und Vergangenheit genommen habe - die Kraft, einfach weiterzumachen, schöpfte Smutek aus jenem Hass, von dem Ada gesprochen hatte.
    Als eine der letzten Schulen im Bundesland hatte Ernst-Bloch die

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