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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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halbjährliche Gesamtkonferenz abgeschafft und die entsprechenden Kompetenzen auf die Schulleitung übertragen. Zu den Dingen, für die es nach wie vor eines Konferenzbeschlusses bedurfte, gehörte ein Rausschmiss, über den die Mehrheit der Lehrer des betreffenden Schülers zu bestimmen hatte. Im Schnelldurchlauf rekapitulierte die Chemiekammerrunde die Namen von Adas Lehrern, untersuchte sie auf antagonistische Lager und die dazwischen liegende Pufferzone aus Gleichgültigkeit. Es reichte bei weitem nicht für einen Schulverweis. Teuter schoss in die Luft. Smutek dachte an durchgebissene Halsschlagadern. Auf dem Gang zupfte Höfi ihn mal wieder am Ärmel. Das ist deine Schuld, du weißt es. Du hättest sie ihn Ruhe lassen sollen.
    Vom Auto aus rief er Ada auf dem Handy an. Pass auf, dies ist ein illegaler Anruf. Bitte komm nicht zum Training, bis die Sache vorbei ist. Einverstanden? Natürlich, du bist ja immer mit allem einverstanden. Hast du mit deinen Eltern gesprochen? Das dachte ich mir. Es wäre meine Pflicht, sie zu informieren. Das werde ich nicht tun. Ich wollte, dass du das weißt. Erzähl niemandem von diesem Anruf, sonst verliere ich meinen Job.
    Man war gespannt auf Teuters Tatsachenvortrag wie auf einen groß angekündigten Kinofilm. Die Stimme von Kermet dem Frosch füllte minutenlang das Lehrerzimmer, dann herrschte Stille bis auf das Rauschen der Ölheizung. Die große Odetta, das glatte Haar zu einem straffen Knoten gekämmt, die Augen nicht ganz so schwarz umrandet wie gewöhnlich, saß fluchtbereit in Nähe der Tür und schaute verunsichert in die stummen Gesichter. Sie nahm zum ersten Mal als Beobachterin an einer Konferenz teil und hielt sich mit dem Gedanken bei Laune, dass sie in kaum einer Stunde ihr Haar lösen und die Treppe hinaufsteigen würde, um Alev in seinem neu bezogenen Internatszimmer bei schwermütiger Musik und Wein Bericht zu erstatten. Odetta war das, was man ein Mädchen aus gutem Hause nannte. Eine Zeit lang hatte sie darunter gelitten, selbst weniger gut als dieses Zuhause zu sein, und sich schließlich für milde Andersartigkeit entschieden. Seitdem trug sie Schwarz, schminkte sich stark und bekam dafür ein teures Internatszimmer bezahlt. Sie hielt sich für glücklich. Weil sie die Liebe zu Alev mit unzähligen anderen Mädchen teilte, hatte sie das Gefühl, etwas Richtiges zu tun. Von dem, was auf der Konferenz verhandelt wurde, war sie restlos überfordert.
    Ada hatte am vergangenen Montag zu Beginn der dritten Stunde im Biologiesaal auf der Fensterbank gesessen und in einem der Bücher gelesen, mit denen Alev sie versorgte, um eine solide Grundlage für ihre Indoktrinierung zu schaffen.
    »Todesangst«, hatte er gesagt, »ist ein abwegiges Ding. Was wäre von Romanfiguren zu halten, die kaum noch in der Lage sind, an ihrer Geschichte teilzunehmen, weil das sicher bevorstehende Ende der Erzählung sie lähmt?«
    Als Kind, hatte Ada geantwortet, habe sie manchmal vor dem Haus gekauert, die Bahnen von Ameisen, Käfern und kleinen Spinnen beobachtet und darüber nachgedacht, dass keins von ihnen zu Beginn des Winters noch am Leben sein würde. Ihr krabbelt einen Sommer lang herum, habe sie zu ihnen gesagt, dann kommt die Kälte, ihr werdet langsamer, schwächer und seid schließlich verloschen.
    »Nimm dieses Buch«, meinte Alev, »und stör dich nicht am schlechten Stil. Es ist wie die meisten Bücher für dumme Menschen geschrieben und für noch dümmere übersetzt.«
    Anstelle der Biologielehrerin war Teuter im Türrahmen erschienen, um die Stunde freizugeben. Ada hatte den angefangenen Abschnitt zu Ende gelesen und war fast fertig, als ihr Name, scharf gesprochen, die heizungsmüde Luft durchschnitt.
    »Ja nee, kommen Sie nach vorn und lesen Sie laut, was Ihre Aufmerksamkeit so sehr fesselt.«
    »Sicher nicht«, hatte Ada gesagt, das Buch zugeklappt und sich zu ihrem Platz in der hintersten Bankreihe begeben. Die Spannung im Biologiesaal war hoch genug, um eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen.
    »Dann ist das Werk hiermit beschlagnahmt.«
    Ada hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
    »Wären Sie ein Staat, würde man Sie wegen solcher Methoden als nicht beitrittsfähig zur Europäischen Union betrachten.«
    Unterdrücktes Lachen in Dolby Surround. Ada ließ ihre Blickpfütze weiter auf Teuters Gestalt verschwimmen, während er auf sie losrannte, kleiner denn je, behände zwischen den Bankreihen wie ein Pinscher auf der Jagd. Einen Moment lang sah es aus, als

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