Spieltrieb: Roman
Schmidt, dem zu Ehren Ada von Zeit zu Zeit einen Mondvergleich ersann und in ihr selten genutztes Tagebuch eintrug. An Selma: Der Mond, matschig wie ein Klecks Kartoffelpüree, von Kinderhand in den Himmel geschmiert. Der Mond, ein unregelmäßig gebackenes Fladenbrot. Ein Mond von der Sorte, die niemand bemerkt, eine Herde Wolken an sich vorbeiwinkend.
Den Ersten Weltkrieg stellte Ada sich als einen schwarzen Mantel vor, der für vier Jahre über den Kontinent geworfen worden war und in dessen Schatten sich Unsägliches ereignet hatte. Als er sich wieder hob, ließ er die Welt in Chaos und Umsturz zurück. Der Zweite Weltkrieg aber war ein Abgrund, in den der Geschichtsstrom, aus historischen Höhen herabbrausend, unentwegt stürzte, anstatt sich in den Ebenen der jüngeren Vergangenheit zu drosseln und zu weiten, um schließlich sanft die Arche Gegenwart dem Meer der Zukunft entgegenzutragen. Auf der hiesigen Seite des Abgrunds verlief ein trockenes Flussbett im Sand, bis hier und dort das Wasser aus dem Boden drückte, erst ein Rinnsal, dann einen Bach ergab, der schließlich, gut befestigt und kanalisiert, genug Wasser führte, um achtzig Millionen Demokraten in Einer- und Zweierkanus flussabwärts paddeln zu lassen. Es war schön, stromaufwärts zu gehen, sich am trockenen Rand des Abgrunds niederzulassen und eine lange Angel auszuwerfen. Die Fische, die Ada aus den vis-à-vis fallenden Massen fing, waren mächtig und bizarr wie Urzeitviecher. Sie waren von Dostojewski, Balzac oder Mann.
In der Unterstufe hatte Ada eine Freundin, der sie alles weitererzählte, was sie las. Die Freundin hieß Selma, ging in die Parallelklasse und stammte aus Bosnien-Herzegowina, an das sie sich nur noch in den Kategorien von Pflaumenmus und Sonnenschein erinnerte. Sie lebte in Deutschland, seit der Krieg ihr sommerlich duftendes Heimatland in eine Bluthölle verwandelt hatte. Selma besaß einen Hund, mit dem sie und Ada an den Nachmittagen quer durch die Wälder des Kottenforstes zogen, meist auf der Fährte einer Gruppe Rehe oder einer Wildschweinrotte, bis der Hund sie gegen Abend, am ganzen Körper mit kleinen Zweigen und Blättern besteckt, nach Hause brachte. Während sie gingen, redete Ada, und Selma hörte zu. Sie interessierte sich für alles, für jede Art von Geschichten, die Ada zu berichten wusste. Eine unvollständige Nacherzählung der Buddenbrooks mit vielen logischen Löchern war ebenso viel wert wie eine ganze Serie Liebeständel aus der Menschlichen Komödie, ein Stakkato Zweig'scher Novellen oder ein paar Andeutungen über das Wesen von Zeit und Raum.
Wenn eine von Selmas zahlreichen familiären Verpflichtungen verhinderte, dass sie sich trafen, schrieb Ada Briefe, aus denen mit der Zeit ein Tagebuch wurde, das >An Selma< hieß. Auf literarische Nacherzählungen folgten Berichterstattungen aus der Welt der Gedanken und Gefühle. Ada teilte mit, dass sie nichts Schönerem in der Welt begegnet sei als Selma, dass die Bäume des Mischwalds die Köpfe wandten, um ihnen nachzusehen, dass der ganze Kottenforst sich vor ihnen verbeuge, die Vögel ihren Gesang für sie änderten und Ada stolz und glücklich sei, Selmas geistige Landschaften mit ihren Geschichten für eine Weile besetzen zu können. In ein paar Jahren, verhieß Adas Tagebuch, würde es andere geben, die ihre Bewunderung geschickter auszudrücken vermochten als Wald, Vögel und sie selbst. Bis dahin aber wolle sie Selma für sich allein. Das sicherte die Freundin ihr schriftlich auf einer freien Seite des Tagebuchs zu und gestattete es fortan, dass Ada auf Wanderungen und im Schulklo den Arm um sie legte und sie auf den Mund küsste.
Aus Adas Unterlagen ergab sich, dass sie Selma im Ganzen über dreihundert Bücher, Novellen und Kurzgeschichten nacherzählt hatte, bevor es zum Bruch kam. Als Mutter und Stiefvater einen Sommerurlaub in den Bergen ankündigten, verlangte Ada, bei Selma bleiben zu dürfen, die sie >ihre Frau< nannte. Wenig später fand sie sich auf der Terrasse einer Hütte wieder, blickte auf die Felsrücken der umstehenden Giganten, die sich viel zu dicht vor ihr aufbauten, las Bücher und hörte ein Lied auf einer Kassette, die sie dem Autoradio des Stiefvaters entnommen hatte. Wenn das Lied zu Ende war, spulte Ada das Band zurück und hörte es von neuem. Unmöglich zu beschreiben, was diese Musik in ihr auslöste. Sie lieferte den Soundtrack zu Adas Verzweiflung, zur Sehnsucht nach Selma und dem aufgestauten Druck zahlloser
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