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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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unerzählter Geschichten, die dem Vergessen erlagen und dabei um sich schlugen und pausenlos schrien.
    Das Lied hatte einen Refrain, den Ada, des Englischen noch weitgehend unkundig, als >Sir Don Camisi, to me< verstand. Einige Zeilen weiter tauchte die Wendung >I love you< auf. Ihre Briefe an Selma, die der Stiefvater einmal in der Woche zum örtlichen Postamt brachte, baten darum, nicht vergessen zu werden, erflehten Fürsorge für das Tagebuch, das in Selmas Obhut zurückgeblieben war, fassten ein paar jüngst gelesene Geschichten in wenigen Sätzen zusammen und erzählten vor allem Dinge, die das Schweigen der umliegenden Bergriesen ihr eingeflüstert hatte. Sie waren mit >Don Camisi< unterschrieben. Das war der Name der Einsamkeit.
    Als Ada zurückkam, hatten Selmas Eltern das Tagebuch gefunden und sämtliche Briefe abgefangen. Das war das Ende aller Waldspaziergänge. Selma beantwortete die Zettel nicht, die Ada ihr auf dem Schulhof zusteckte. Adas Kampf um Selma endete abrupt, als die Familie abgeschoben wurde und an einen Ort in Bosnien zurückkehrte, dessen Namen Ada sich nicht merken konnte. Jahre später entdeckte sie ihn in den Unterlagen für ein Referat im Geschichtsunterricht: Visegrad. Dort stand die Brücke über der Drina und trug eine alte Inschrift: Fließe, Drina, fließe und erzähle. Dreimal sagte Ada den Spruch auf und verspürte das Bedürfnis zu weinen, ohne zu wissen, ob vor Freude oder Schmerz. Wie es die Angewohnheit des Zufalls ist, wurde in der gleichen Woche Don Camisi von der Realität erschlagen. Die Remix-Version eines Achtziger-Jahre-Hits kam auf den Markt: Words don't come easy to me.
    Eine neue Selma war nicht aufgetaucht und auch sonst niemand, der zuhören wollte. Ada hatte gelernt, Geschichten zu lesen, ohne sie nacherzählen zu dürfen. Ihr Tagebuch führte sie weiter, schaffte aber nicht mehr als ein paar Zeilen in der Woche.
    Für einen ungestörten Ablauf aller geistigen Prozesse schloss Ada sich meistens im Badezimmer ein. Auf dem Weg dorthin blieb sie vor den drei Regalen im Wohnzimmer stehen. Den Beständen ihres früh verstorbenen Erzeugers entnahm sie einen der dicken Schmöker, die im Wesentlichen seine Hinterlassenschaft ausmachten. Ihr Stiefvater, den Ada seit seiner letzten Beförderung nur noch den >Brigadegeneral< nannte, hatte die Familienwohnung ohne seine Bücher verlassen; aus seinem Regal wählte Ada irgendein Werk über Zeitforschung, Astronomie, Philosophie oder Bismarck'sche Realpolitik. Schließlich griff sie aus der Sammlung von Neuzugängen nach ein oder zwei in Hochglanzpapier geschlagenen Werken mit bunten Titelbildern. Diesen Stapel trug sie schnell und leise über das Altbauparkett und die moderne Wendeltreppe in die obere Maisonetteetage, wo sich das Badezimmer befand.
    Nach dem Auszug des Brigadegenerals hatte Adas Verwandlung in einen Trichter begonnen, in den man jedes Kümmernis hineinsprechen konnte, ohne dass ein einziger Tropfen danebengegangen oder je wieder zum Vorschein gekommen wäre. In diesen Trichter ergossen sich die Sprachausbrüche der Mutter, wann immer sie seiner habhaft werden konnte. In Adas Charakter waren nämlich ganze Reihen von aufdringlichen Ähnlichkeiten zum verflossenen General zutage getreten, und weil die beiden nicht miteinander verwandt waren, mussten diese Veränderungen auf ein Jahrzehnt seines Einflusses zurückgehen und sich auf psychischem Weg wie die Symptome einer Induktionskrankheit auf die Tochter übertragen haben. Einer solchen Entwicklung wortreich entgegenzuwirken kristallisierte sich als der Kern mütterlicher Restpflichten heraus, nachdem die übrige Erziehungsarbeit seit dem Verschwinden des zweiten Ehemanns sukzessive eingestellt worden war. Die Mutter wandte ihre ganze Kraft auf, um den General in der eigenen Tochter zu bekämpfen, und es war nicht einfach, dem zu entgehen. Adas Zimmertür stellte keine natürliche Grenze dar. Alle Türen in der Wohnung waren ohne Schlüssel, und so genügte ein Anklopfen, um nach den Regeln der Höflichkeit freien Eintritt zu erlangen. Jeder Versuch, sich gegen die seelische Verklappung zur Wehr zu setzen, wurde als neuerlicher Ausbruch der Infektion gewertet und ließ den Abladevorgang nahtlos in einen Angriffskrieg zu Adas eigenem Besten übergehen.
    Eines glücklichen Tages hatte sie herausgefunden, dass die Badezimmertür eine Schranke darstellte, die von den Gesetzen der Privatsphäre zu einem Bollwerk verstärkt wurde. Ada begann, ihre Klogänge

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