Spieltrieb: Roman
systematisch auszudehnen, bis sie endlich voll ausgerüstet für mehrstündige Aufenthalte hinter geschlossener Tür verschwand, die Heizung aufdrehte, sich in die trockene Badewanne legte oder auf den Toilettendeckel setzte und las. Gelegentlich kam die Mutter in die Maisonetteetage hinauf, klopfte an und fragte, wie lange es noch dauern werde. Eine Weile noch, antwortete Ada von drinnen, sie solle besser unten das Gästeklo benutzen. Weil die Mutter weibliche Schönheit nicht für ein Geschenk, sondern für eine Verpflichtung hielt, begrüßte sie es grundsätzlich, dass ein junges Mädchen den halben Tag vor dem Spiegel verbrachte und dass insbesondere die spröde Ada der Körperpflege plötzlich so viel Aufmerksamkeit schenkte. Eine Weile stand sie unschlüssig vor der Tür herum, dann klickten ihre hochhackigen Schritte die Wendeltreppe hinunter und verloren sich in den spiegelnden Weiten der Wohnetage.
Seitdem wurde Ada vor allem am Esstisch von verbalen Kreuzzügen heimgesucht, und ihr Lesepensum erhöhte sich auf drei bis vier Bücher pro Woche. Bevor jemand in Adas Leben auftauchte, der das Sägewerk in ihrem Kopf besser zu beschäftigen wusste, als ein Buch es jemals vermocht hatte, bevor diese Begegnung sie aus der Welt der Literatur in die so genannte echte Welt hinauszwang und bevor überhaupt alles sich änderte, musste noch ein Jahr vergehen, in dem eine Menge geschah, das Ada immer nur am Rand berührte.
Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Ada hasst Dummheit
I n diesem Schuljahr hatte Smutek keine eigene Klasse, dafür aber ein Jahr Zeit, um sich mental und praktisch auf den ersten Leistungskurs seiner Laufbahn einzustellen. Kurz vor seiner Pensionierung hatte Singsaal ihm für 2003 den Deutschleistungskurs der jetzigen zehnten Klassen zugeteilt und diesen Beschluss im ganzen Lehrerkollegium und vor allem bei Teuter bekannt gemacht. Am liebsten hätte Smutek ihm den Ring geküsst. Auf Ernst-Bloch war das erweiterte Leistungskursmodell der Mainzer Studienstufe schon zu einem Zeitpunkt verwirklicht worden, da es noch nicht einmal diesen Namen trug, so dass sich die Klassenverbände bereits in der elften Jahrgangsstufe auflösten und die Schüler in ihre Schwerpunktbereiche entließen. Für Smutek bedeutete das: ab nächstem Jahr sechs Stunden pro Woche mit einer Gruppe von sechzehnjährigen Schülern, Referate, Diskussionen, Kreatives Schreiben, Exkursionen, die traditionelle Orientierungsfahrt im ersten Halbjahr der Elf und schließlich die gemeinsame Vorbereitung aufs Abitur.
Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie würden sich kennen lernen, vielleicht irgendwie anfreunden. Manch einer würde ihn nicht leiden können, aber alle würden ihn endlich als das betrachten lernen, was er war: ein Mensch, ein Lehrermensch zwar, aber immerhin ein Mensch. Smutek litt darunter, immer nur eine Funktion sein zu müssen, die umschmeichelt oder betrogen, belagert, ausgenutzt oder bestochen wurde. Er wollte menschlichen Kontakt. Er hielt seine Schüler nicht für dumm und fühlte sich ihnen nicht wesentlich voraus, wenig an Alter, kaum an Klugheit, ein Stück an Erfahrung. Auch wenn er wusste, dass er mit seinen siebenunddreißig Jahren aus ihrer Sicht hoch wie ein uralter Baum aus einer Wiese ragte, deren Gräser und Blumen nach den Prinzipien des Entstehens und Vergehens ein bestimmtes Alter niemals überschritten; auch wenn eine zehnte Klasse immer eine zehnte Klasse war und weder alterte noch sich sonst wesentlich veränderte, während Smutek von der vergehenden Zeit Jahr für Jahr dem eigenen Tod ein weiteres Stück entgegengetragen wurde; auch wenn er auf der Uni gelernt hatte, dass es für einen Lehrer gefährlich war, sich mit den Schülern gemein zu machen, spürte Smutek doch mit Gewissheit, dass sie sich von gleich zu gleich am besten verstehen würden. Endlich würde er auf Konferenzen von >seinem Kurs< sprechen können. Endlich würde er aufhören, wie ein Freischärler allen und keiner Klasse zu dienen. Endlich wäre er nicht mehr allein.
Smutek dachte schon jetzt darüber nach, welche Bücher er mit ihnen behandeln wollte, nahm sich vor, den Pflichtteil aus Effi Briest, Werther und Blechtrommel auf ein erträgliches Maß zu begrenzen und die Beschlüsse der Fachkonferenz dahingehend auszulegen, dass sich sprachliche, ethische und ästhetische Kompetenzen sowie wissenschaftspropädeutische Grundlagen am besten anhand des monströsesten Werks der deutschsprachigen Literaturgeschichte vermitteln
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