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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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hatte er begonnen, über Bismarck zu sprechen. Wir sind die Urenkel der Nihilisten. Als es zum Schulschluss klingelte, waren dies die letzten an ihn gerichteten Worte seines Lebens.
    Jetzt fiel er. Der Augenblick der Eleganz war vorbei, Höfi stürzte wie ein Stein, zog sich in der Luft zu einem Klumpen zusammen, gewann an Tempo, erreichte seine Höchstgeschwindigkeit und landete mit einem Geräusch, als prallte ein Medizinball vom Gewicht eines Kleinwagens auf den Asphalt. Er lag höchstens fünf Meter von Ada entfernt. Es hätte sie nicht gewundert, die Stelle von einem Stern aus Rissen umgeben zu sehen, angeknackst wie eine Eisdecke, die schließlich doch standgehalten hatte. Ada war sicher, dass es diesem Körper lieber gewesen wäre, in eine unbekannte Tiefe hinabzusinken und nur ein Loch im Boden zu hinterlassen, anstatt hier liegen zu bleiben, herabgewürdigt zu einem Haufen alter Kleider, die nicht mehr in den Container gepasst hatten.
    Sie klappte den Mund zu, den sie zum Schreien geöffnet und dann vergessen hatte. Das Wesen vor ihr verfügte weder über Gliedmaßen noch über ein Gesicht. Alles, was es einst zum Menschen gemacht hatte, lag unter ihm selbst begraben, es war auf allen vieren gelandet wie eine Katze nach einem Sturz aus dem sechsten Stock.
    Allein mit Höfi, erlebte Ada einen seltsam intimen Moment. Sie teilten einen der wichtigen, vielleicht den wichtigsten Augenblick seines Lebens. Es war ihr peinlich. Eindeutig hatte er gewollt, dass niemand ihm zusah.
    Was würdest du empfinden, hatte Alev gefragt, wenn hier vor dir eine Leiche läge? - Ekel und Faszination.
    Ada empfand nichts dergleichen. Sie fühlte tiefe Verbundenheit, nie zuvor war sie einem Menschen so nahe gewesen. Am liebsten hätte sie sich neben ihn gekauert und die gleiche Haltung eingenommen, den Kopf auf den Boden gepresst, Arme und Beine unter dem eigenen Leib. Nicht einen Gedanken verschwendete sie an die Frage, ob er vielleicht noch am Leben sei. Sie kam gar nicht auf die Idee, um Hilfe zu rufen, loszurennen, ihre trainierten Beine zu nutzen, um einen Lehrer, die Polizei oder den Krankenwagen zu holen. Im Gegenteil wollte sie die Zeit verlängern, die ihr mit ihm blieb, Zeit, sich zu nähern, so behutsam, wie es der Fuchs dem kleinen Prinzen beschrieben hatte, um weder ihn noch sich selbst zu erschrecken. Zeit, neben ihm zu verharren, bis sie sich aneinander gewöhnt hätten, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, seine Wärme zu spüren, die sich noch eine ganze Weile halten würde, das Sinken seiner Temperatur zu verfolgen, sechsunddreißig, dreiunddreißig, irgendwann abwegige fünfzehn Grad, mit ihm zu flüstern, an ihm zu riechen, und ihn schließlich irgendwann, Stunden später, wenn sie sich ganz aufeinander eingestellt hätten, vorsichtig umzudrehen.
    Alev kam von der Raucherhofseite um das Gebäude. Als Ada sah, wie er seine Schritte beschleunigte, stellte sie sich neben Höfi, als müsste sie ihn verteidigen. Der Schulhof wurde zur Bühne, auf der zwei Figuren, eine stehend, die andere liegend, das Herannahen einer dritten Person erwarteten.
    Ausgerechnet Höfi. Nicht Höfi. Bitte!
    Erst sah es aus, als wollte Alev sich zu Boden werfen, dann beherrschte er sich. Er war blass geworden, hob mehrmals hilflos die Arme und legte sie schließlich um Ada, als ob er sie beruhigen wollte, dabei hielt er sich an ihr fest. Sie wehrte ihn ab.
    Was würdest du empfinden, wenn hier vor dir eine Leiche läge?
    Alev antwortete nicht. Ada trat einen Schritt zurück und brachte den Liegenden zwischen sie, während Höfi zu einer Theaterleiche wurde, zu einem bemitleidenswerten Statisten, der den ganzen Abend fürs Stillliegen bezahlt wird.
    Ich nutze die Gelegenheit, dir Folgendes zu sagen. Ich kann akzeptieren, dass du mehr in der Theorie als in der Praxis lebst, aber. Zeig jetzt keine Schwäche. Gefälligst nicht vor ihm!
    Ihre Wangen waren gerötet, sie sprach mit dem ganzen Körper, als ob die aus Höfi entweichende Wut und Lebensenergie sich in ihr das nächstbeste Wirtstier gesucht hätten.
    »Komm rüber«, sagte Alev, »komm auf meine Seite. Wir werden ihn gemeinsam vermissen.«
    Sie stand schon neben ihm und ließ sich in die Arme schließen, als ihr der Satz einfiel, den sie eigentlich hatte sagen wollen und der das Gefühl beschrieb, welches sie so heftig gegen Alevs tölpelhaftes Entsetzen verteidigt hatte. Sie flüsterte vor sich hin, und Alev nickte, verstand: Durch das, was er getan hat, wird er zu einem von uns.

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