Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
und ging. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Erhalt der Nachricht in der Lage zu weinen. Er rannte zu den Toiletten, schloss sich in einer Kabine ein und presste eine Hand voll Klopapier auf die Augen. Es kamen keine Tränen. Smutek stöhnte wie ein Betrunkener, der sich trotz alkoholschwangerer Übelkeit nicht erbrechen kann. Es fiel ihm leichter, an einen katholischen Gott zu glauben, an Osterhase oder Weihnachtsmann, als an Höfis unumkehrbares Verschwinden, auf das es absolut nichts zu erwidern gab. Man musste doch etwas tun können, man musste einen Weg finden, zurück in den gestrigen Tag, zurück zu dem Moment, in dem Smutek seine Tasche geschultert hatte und zum Parkplatz gelaufen war, glücklich über den bevorstehenden freien Nachmittag. Es konnte doch nicht sein, dass das Leben den Menschen von einer Minute zur anderen vor immer neue, vollendete Tatsachen stellte!
    Weil er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte, lief er durch den Lufttunnel zum Altbau hinüber, durchquerte den Physiksaal und riss die Tür zur Chemiekammer auf. Dort saßen ein Mann und eine Frau und verneigten sich vor einem leeren Stuhl, erwachsene Menschen mit zuckenden Hälsen und Rücken, entsetzt wie kleine Kinder über ihr erstes aus dem Nest gefallenes Vogelkind. Hatten sie Höfi so sehr geliebt? Weinten sie wegen des verlorenen Glaubens an die eigene Unsterblichkeit? Betrauerten sie im Voraus den sicheren Tod ihrer Eltern, Geschwister, Kinder, Geliebten? Absurde Spottlust ließ Smuteks Mundwinkel zucken: Schon der zweite verschwundene Geschichtslehrer aus eurem Kreis. Die Geschichte muss das gefährlichste aller Wissensgebiete sein! - Er hielt sich den Mund zu und schloss die Tür, hier hatte er nichts mehr verloren. Diese Menschen waren ihm fremd, und ihre Fremdheit widerte ihn an.
    Im fünften Stock, wo sich niemand außer ihm aufzuhalten pflegte, kam Smutek zur Ruhe. Er legte die Stirn an die kühle Scheibe und genoss den Anblick der Tiefe, in die Höfi sich gestürzt hatte. War nicht auch er ihm fremd gewesen? Würde Smutek, wenn er seiner eigenen Frau überraschend auf überfüllten Straßen begegnete, nicht als Erstes gedacht haben: Sieh an, meine alte Studienfreundin spaziert hier ganz allein? Würde er nicht, wenn er sich selbst von ferne an der Flusspromenade erblickte, überrascht ausrufen: Na so was, mein bester Jugendfreund, und geht hier einfach so vorbei?
    Hoch über den Dingen am Fenster stehend, glaubte Smutek, dass es unter diesen Umständen keinen rechten Grund geben könne, eine zufällige Gestalt zu beweinen, weder die eigene noch die einer anderen Person. Herr Höfling war Frau Höfling in den Tod gefolgt wie ein Schwan, dem schon die Natur den Hals zur Form eines halben Herzen gebogen hat. Er war klug genug gewesen, das Ausmaß seiner Verlorenheit zu erkennen. Das Leben war schwierig geworden, es gab nichts Großes, an das man glauben, keine Pflichten, die man erfüllen, keine Bräuche, an denen man sich freuen konnte, und was einst eine Familie gewesen war, bestand aus versprengten Einzelwesen, die man liebte oder verzweifelt bedauerte - es ließ sich kaum noch unterscheiden. Jeder wusste das. Vielleicht quälte sie alle nur das Erschrecken der Laborratten darüber, dass eine von ihnen sich zum Sterben nicht zurückgezogen, sondern ausgerechnet den Mittelpunkt der Versuchsanordnung gewählt hatte?
    Der Rest des Tages verging wie von selbst. Die Schulleitung hatte einen provisorischen Vertretungsplan erarbeitet und entschieden, den Unterricht ohne Unterbrechung fortzusetzen. Schon in den letzten beiden Stunden hielt das berüchtigte Stehaufmännchen Normalität wieder Einzug in ihren Reihen. Im Autoradio wurden die Zahlen von Toten und Verletzten addiert, die politische Maschinerie lief auf Hochtouren. Nie zuvor hatte Smutek versucht, für einen Bekennerbrief der ETA zu beten. Es fiel ihm leicht.
    Frau Smutek hatte eine Tablette genommen und lag still auf der Couch. Selbstmord war ohnehin das schlechteste aller Themen, zu allem Überfluss hatte sie Höfi flüchtig gekannt. Nachmittag und Abend verbrachte Smutek in der Küche, wo die angebrochene Flasche Wein noch auf dem Tisch stand, füllte die Buchstaben auf fünf weiteren Zeitungsseiten mit Kugelschreiber aus, öffnete eine neue Flasche, wohnte der einbrechenden Dunkelheit bei, schaltete das Licht nicht an und ging halb bewusstlos zu Bett, ohne seiner Frau im Wohnzimmer noch einen Besuch abzustatten.
    Wider Erwarten war am nächsten Morgen alles

Weitere Kostenlose Bücher