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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Unheil zu verhindern wäre.
    Sie wird ein zweites Mal denken, sprechen und gehen lernen. Sie wird erneut heranwachsen, und die ganze Vergangenheit, Kommunismus und Katholizismus, General Jaruzelski, Tod des Vaters und das schäbige Zimmer im Studentenwohnheim, an dessen Tür ab und zu fremde junge Polen klopften und um ein paar Quadratmeter für die Gründung einer ausländischen Widerstandszelle baten - all diese Dinge würden einem vor langer Zeit geschauten Spielfilm angehören, an dessen Handlung und Figuren man sich schemenhaft erinnert. Alles wird gut.
    Die Unruhe blieb. Smutek malte im Verlauf des Abends alle Buchstaben unter der Rubrik Vermischtes aus, in der am nächsten Tag die Meldung vom Freitod eines Lehrers auf dem Gelände einer anerkannten Lehranstalt erscheinen sollte, drehte die Zeitung um und machte auf der Titelseite weiter, die von Innenpolitik schwatzte und noch nicht wusste, dass eine kleine Gruppe Männer irgendwo auf dem Kontinent letzte Vorbereitungen traf, um für Wochen die Titelseiten mit Bildern von explodierten Zügen zu füllen.
    Am nächsten Morgen hörte Smutek es auf dem Weg zur Arbeit im Radio. Madrid. Die Staubwolken hatten sich noch nicht gelegt, in den Taschen unzähliger Toter klingelten die Handys. Die Stimmen der Radiosprecher zitterten.
    In der Nacht hatte der Winter noch einmal zugebissen, Raureif überzog die Grasbüschel vom letzten Jahr mit einer weißen Schicht. Schaltjahr ist Kaltjahr. Smutek konnte sich nicht daran erinnern, was er mit dem zusätzlichen Tag im Februar angefangen hatte. Er schaltete die Autoheizung aus und öffnete das Fenster. Ausgekühlt und nass geschwitzt kam er vor Ernst-Bloch an und blieb noch einen Moment sitzen, um die letzten Meldungen zu Ende zu hören.
    Seine Klasse empfing ihn mit dem dumpfen Schweigen eines kollektiven Wesens, das mehr weiß als der Einzelne. Wie fünfundzwanzig Säulen trugen sie ein ganzes Gebäude aus Unsicherheit, Verwirrung, Entsetzen und Angst auf den geduckten Schultern. Nur zwei Personen saßen außerhalb und betrachteten Smutek durch die Schießscharten eines dicken Gemäuers aus saturierter Gelassenheit. Die Kunde von Höfis Tod hatte sich unter den Schülern schneller ausgebreitet, als offizielle Nachrichten einen Lehrer erreichen konnten.
    »Ihr wisst es also schon«, sagte Smutek und fing an, in bewegten Worten Einzelheiten nachzuerzählen, die er im Radio gehört hatte. Zwei Prinzessinnen brachen in hysterisches Weinen aus und wurden von ihren Galanen aus dem Raum geführt. Man hörte ihr überschnappendes Wimmern den Gang hinunter entschwinden. Smutek selbst war nur noch entgeistertes Stammeln, als Ada sich mit der Miene einer Hinterbliebenen erhob. Durch die Geographie von Höfis Tod und durch die Tatsache, dass sie seine Entscheidung am besten verstand, hatte sie die Stelle eines Nachfahren eingenommen. Sie fasste Smutek am Ärmel und zog ihn zur Tür, so dass nur Alev, der in der vordersten Ecke saß, hören konnte, was sie ihm leise sagte. Smutek nickte, dankte bleich und schickte sie zurück auf ihren Platz.
    Anders als sonst hielt er seine Stunde im Sitzen ab. Die Zeit verging mit Bleigewichten an den Füßen. Aufgrund perspektivischer Verzerrung schienen das wuchtige Unglück im entfernten Madrid und die kleine, aus unmittelbarer Nähe betrachtete Katastrophe eines Lehrerselbstmords von gleicher Größe zu sein. Ihr Aufeinanderfolgen erzeugte eine Bedrohung. Sobald die Menschen etwas nicht begreifen konnten, fielen sie dem Aberglauben zum Opfer, als wären Aufklärung, Forschung und Fortschritt oberflächliches Geklimper gewesen, das nur in guten Zeiten vom tragischen Geworfensein des Menschen ablenken konnte. Niemand wollte darüber sprechen.
    In der Pause wartete Smutek in der Nähe des Mädchenklos auf Ada. Seine Augen wanderten umher, unfähig, länger als eine Sekunde auf derselben Stelle zu verweilen. Er war panisch wie ein Hund, der in einem fremden Land seinen Herrn verloren hat. Weil es gut tat, Ada wie eine frisch gebackene Witwe zu behandeln und dadurch seinen Schrecken zu ihrem zu machen, sprach er ihr auf heftige Weise sein Bedauern aus. Sie lächelte nachsichtig, als verstünde sie alles und wüsste noch mehr, und legte ihm ganz leicht eine Hand auf die Schulter.
    Ist schon gut, gib dir keine Mühe, wir kommen besser damit klar als du, wir sind viel näher dran. Durch das, was er getan hat, wurde er zu einem von uns.
    Als sie lachte, ging es ihm durch Mark und Bein. Sie drehte sich um

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