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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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und schriller wurde. Sie legte den Kopf zurück, heulte in die tote Nacht hinaus und erhielt keine Antwort, nicht mal ein Echo.
    Smutek merkte nichts von alldem. Er begann, auf und ab zu gehen und beim Sprechen in der wehrlosen Luft zu gestikulieren.
    Ich hab dir die Zeit erklärt, jetzt kommt der Raum an die Reihe. Diese ganze, aufgeblähte Täuschung, dieser maßlose Wahrnehmungsspielplatz ist in einem einzigen Punkt enthalten. Wir selbst entschachteln ihn wie die Kulissen eines Kinderbuchs, und der Motor dieser gigantischen Schöpfung ist Unterscheidungszwang, der uns zu allem das Gegenteil suchen lässt. Kein Punkt ohne Fläche, keine Winzigkeit ohne Weite. Ohne Großes gäbe es nichts Kleines, laut nicht ohne leise, keine Schönheit ohne das Hässliche. Wir sehen Schwarzes, weil es Weißes gibt, von dem es sich abheben kann. Kein Rot ohne Blau, kein Mensch ohne Tier. Vielfalt braucht Platz, und die Welt bläst sich auf wie eine Kaugummiblase. Genau wie alle denkbaren Ereignisse in einer einzigen Sekunde Platz finden könnten, wenn sie sich entschieden, gleichzeitig stattfinden zu wollen, lebt alles Örtliche in einem Punkt. Du fragst, wie denn der Mensch Teil eines Punkts sein könne?
    Frau Smutek hatte nichts gefragt und nicht mit der Wimper gezuckt.
    Das Geheimnis besteht darin, dass ein kleiner Teil des Menschen außerhalb des Raumpunktes bleibt. Was außerhalb des Raums liegt, befindet sich außerhalb der Zeit, womit wir beiläufig herausgefunden haben, was die unsterbliche Seele ist. Eine Instanz muss Betrachtungen anstellen und Unterscheidungen treffen und kann nicht selbst Gegenstand dieser Betrachtungen und Unterscheidungen sein. Ein Messer kann alles schneiden außer sich selbst, ein Fuß kann nach allem treten außer nach sich selbst, ein Finger auf alles zeigen außer auf sich selbst. Wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, über das eigene Bewusstsein grübele oder mich frage, wer ich sei, bleibt immer ein Teil zurück, der sich selbst nicht fassen kann.
    Irgendwo in uns ist dieser letzte, winzige Krümel, der immer einen Schritt zurücktritt, wenn wir meinen, einen Blick auf ihn geworfen zu haben - denn er ist es, der blickt. Das ist die Seele, sie hat die Welt erschaffen, du kannst sie Gott nennen. Sie bleibt übrig als zwingendes Subtraktionsergebnis, wenn einer von uns stirbt. Das Universum ist erklärt. Wir können schlafen gehen.
    Frau Smutek rührte sich nicht. Höfi rührte sich nicht. Auch Ada hatte aufgehört, sinnlos zu heulen wie ein Wolf, der nur die eigene Stimme hören will. Smutek stand mitten im Zimmer, dort, wo das Ende seiner Ausführungen ihn zurückgelassen hatte, und rührte sich nicht mehr, konnte nur das Atmen nicht vermeiden, das ihm die Brust hob und senkte wie nach schnellem Lauf. Er wollte seine Frau wecken, sie dazu bringen, ihn anzusehen, ihm zu antworten, mit ihm zu schlafen. Er führte Selbstgespräche. Er verkraftete die Situation nicht mehr. Mit beiden Händen fuhr er sich heftig an die Stirn.
    Ada schüttelte sich und lief durch die Pfützen nach Hause. Höfi kippte auf die Seite und rollte sich zusammen. Smutek wünschte, nie geboren worden zu sein, und verließ das Wohnzimmer, um ins Bett zu gehen. Im Flur, beinahe außer Hörweite, vernahm er die Stimme des Schneewittchens. Mit geschlossenen Augen sagte es, dass es ihn liebe. Er sprang mit einem Satz vor die Couch, sank in die Hocke und knetete mit beiden Händen die farbenfrohen Quadrate am Rand der Patchworkdecke, weil er nicht wagte, seine Frau zu berühren.
    Am nächsten Tag kam Höfi nicht zur Arbeit, ohne sich krank gemeldet zu haben.
    Wir sind die Urenkel der Nihilisten Ein Adler löst sich vom Dach
    D rei Tage nach dem Gewitter funktionierten die Himmel noch immer nicht. Der blaue Farbton wollte sich nicht einstellen, blieb stecken zwischen Hellgrau und Weiß, dann zerriss ein Windstoß die dünnen Wolkenschichten, dass sie in Fetzen hingen, zur Seite trieben und sich jenseits des Flusses am Rand der Hügelkette in großen Falten zusammenballten wie eine von der Stange gefallene Gardine. Sie gaben den Blick frei auf das dahinter liegende Nichts.
    Es war Mittwochmorgen, als Höfi ohne jede Erklärung wieder zum Unterricht erschien. Kurz nach Schulschluss, genau in der Sekunde, da ein einzelner Sonnenstrahl aus dem leeren Himmel schoss und am Dachfirst von Ernst-Bloch die doppelseitige Klinge wetzte, ging Höfi in die Knie und drückte sich mit beiden Beinen ab. Es war der erste und zugleich letzte

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