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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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abzuhalten, sondern sein Gift ohne Anknüpfung an ein bestimmtes Thema verspritzte. Die Menschheit, hatte er erklärt, habe bislang noch in jedem Zeitalter einen Weg gefunden, sich ins Unglück zu stürzen. Die neue Gewaltmode sei nicht überraschender als Sommerhosen mit Gummizug an den Beinen. Er sage hiermit voraus, dass der neue Vernichtungs-Look noch eine ganze Weile das Geschehen dominieren werde, ganz egal, mit welchen Mitteln die Autoritäten sich dagegen zu wehren versuchten. In Wahrheit wolle die Menschheit es so. Er kündigte das nächste groß angelegte Attentat an, aller Wahrscheinlichkeit nach auf polnischem oder spanischem Boden, und verhöhnte im Voraus all jene, die sich verzweifelt und lustvoll bemühen würden, dem Unerträglichen die Namen Al Qaida, Islamismus oder Clash of Civilizations aufzustempeln.
    Angestachelt von diesen Bemerkungen, hatte Alev erwidert, dass damit nichts Neues verkündet sei. Wenn man dem demokratischen Zeitalter Namen geben wolle, dann doch bitte nur einen: Epoche der Heuchelei. Vor nicht allzu langer Zeit habe das Oberhaupt eines Landes, das Rohstoffe brauchte, das Notwendige ohne viel Federlesen durchgeführt, während heutzutage eine pervertierte Moral jedem Machthaber das Aufstellen von fünfundneunzig Thesen auferlege, bevor dann doch getan werde, was man seit jeher tat. In diesem Zusammenhang erscheine Terrorismus als ein rhetorisches Problem. Jeder, der solche Legitimationsbestrebungen einen ethischen Fortschritt nenne, bereite ihm nichts als Brechreiz, und das umso mehr, seitdem der verlogenste Begriff aller Zeiten die postmoderne Realpolitik zu entschuldigen habe: Sicherheit. Denn auf einem so engen Planeten könne es Sicherheit ebenso wenig geben wie ewiges Leben, und wenn die Politik etwas anderes behaupte, lüge sie.
    Höfi, der fast hinter dem Lehrerpult verschwunden war, hatte ungeduldig zugehört und reagierte grundlos aggressiv. In demokratischen Ländern halte die so genannte Politik der Gesellschaft einen Spiegel vor, und zu dieser Gesellschaft, Herr El Qamar, gehörst auch du, trotz aller höchst bemühten gegenteiligen Anstrengungen. Also frag dich, wer heuchelt.
    Für einen Moment entglitt Alev die Sprache. Ada merkte es und kam ihm zu Hilfe, ohne sich zu melden: »Durch einen Spiegel, Herr Höfling, kann man die Welt nicht betrachten.«
    »Genau!«, rief Alev, wieder bei Kräften, »ein Spiegel ist kein Fenster«, und merkte zu spät, dass er durch eine überflüssige Reaktion den Erfolg versalzen hatte, steinernes Schweigen und ein Lächeln hätten zum Zeichen des Beipflichtens völlig ausgereicht. Höfi hatte den tief zwischen den Schultern sitzenden Kopf gewendet und sah Ada an wie ein Stier, dessen Aufmerksamkeit durch das Hinzutreten eines zweiten Toreros abgelenkt wird.
    »Liebe Ada, du bist erstaunlich viel klüger als wir alle.«
    »Genau wie ihr«, antwortete Ada so schnell, als lese sie ihren Dialogpart von einem Skript ab, »habe ich von nichts eine Ahnung. Das aber mit erheblich höherer Geschwindigkeit.«
    Höfis Lachen war echt und begrub das Kriegsbeil unter sich, während er die Arme wie Schwingen ausbreitete.
    »Mit euch kann man nicht reden«, rief er, »ihr seid furchtbar altmodisch. Nihilisten!«
    »Schlimmer«, sagte Alev, plötzlich ernst, aus der anderen Ecke des Raums. »Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben konnten.«
    »Wir«, sagte Ada, »sind die Urenkel der Nihilisten.«
    Als Höfi sie ansah, lagen ihre Hände flach auf der Tischplatte. In der Klasse herrschte unklare Stille, keiner vermochte den Sinn des zungenfertigen Aneinander-Vorbeiredens zu verstehen. Etwas lag in der Luft, es klang wie: Ihr werdet alle sterben und es wird keine Bedeutung haben. Obwohl das niemand gesagt hatte.
    Höfi kapitulierte auf seine Art. Er schlug das Geschichtsbuch auf, gab vor, nach der Stelle zu suchen, an der sie letzte Woche unterbrochen hatten, hob schließlich den Kopf und schaffte es, mit einem verschwommenen Blick allen gleichzeitig ins Gesicht zu sehen.
    »Vielleicht ist es ein Glück«, sagte er sanft. »Wir haben das Ende der Religion überlebt, wir werden auch das Ende der Philosophie überleben. Vielleicht könnt ihr auf diese Weise verkraften, was auch immer geschieht. Merkt euch zwei Dinge. Wenn das Fernsehen euch sagt, etwas sei wichtig, will irgendjemand gerade ein Produkt verkaufen. Euch bleibt nur eins: Amor fati, die Liebe zu allem, was ist. Ich wünsche euch das Beste.«
    Dann

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