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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Unter Höfi breitete sich eine Lache aus und war dabei, ihre Fußspitzen zu erreichen, zu hell für Blut, es war Urin und roch auch so.
    Man fand sie eng umschlungen neben der zerschmetterten Leiche ihres Geschichtslehrers. Kurz darauf verwandelte das zuckende Kreiseln von Blaulicht Ernst-Blochs Fassade von einer Theater- in eine Filmkulisse. Der trübe Tag hatte keine Chance gegen die grellblauen Blitze und übernahm die Rolle eines späten Abends oder frühen Morgens vor Sonnenaufgang. Ada wandte sich ab, als fremde Hände nach Höfi fassten und ihn aufhoben, um die Bahre unter ihn zu schieben. Wild kämpfte sie gegen die Berührungen eines jungen Arztes, der den Fehler beging, ihre Ruhe mit den Folgen eines erlittenen Schocks zu verwechseln.
    Auch Alev verweigerte die ärztliche Untersuchung. Sie bestanden darauf, mit auf die Polizeiwache zu fahren, saßen zwischen Linoleum, ausgetrunkenen Kaffeebechern und staubigen Blattpflanzen, die nicht künstlicher hätten aussehen können, wenn sie aus Polyethylen gepresst worden wären, und gaben ihre Angaben zu Protokoll. Nein, er wurde nicht gestoßen. Begreifen Sie doch, dass er freiwillig sprang. Warum ich so sicher bin? Weil ich es gesehen habe. Und weil ich ihn kannte.
    Auf der Rückbank eines Taxis besprachen sie alles Weitere. Es war nicht nötig, ein Wort darüber zu verlieren, dass Alevs Plan nicht nur trotzdem, sondern jetzt erst recht durchgeführt werden würde. Höfi war der einzige Mensch gewesen, den keiner von ihnen hatte verlieren wollen. Mit ihm verschwand die letzte Instanz aus der Welt, die in der Lage gewesen wäre, ihnen etwas entgegenzusetzen.
    Die Wahl war auf Freitag gefallen, Freitag, sechzehn Uhr, in der Turnhalle. Smutek hatte eine Vertretungsstunde bei der Volleyballmannschaft der Mittelstufe, die um Viertel vor vier endete. Grinsend garantierte Alev dafür, dass ein anonymes Volleyballmädchen die Tür zur Turnhalle zum rechten Zeitpunkt von innen öffnen würde. Ada sollte hineinschlüpfen, sich in der Lehrerumkleide verstecken und abwarten, bis Smutek die Aufräumarbeiten beendet und die Tür hinter dem letzten Schüler verriegelt hatte. Alles Weitere, versprach Alev, bleibe dem natürlichen Gang der Dinge überlassen. Geschwisterlich trocken küssten sie sich auf den Mund, als das Taxi vor der Villa hielt. Oben hing die Mutter schon aus dem Fenster.
    Die Fremdheit der Menschen ist allumfassend. Ciebie nie zapomnq
    M ittwochs hatte Smutek die letzten beiden Stunden frei.
    In der Sekunde, da Höfi dumpf aufs Pflaster schlug, saß er bereits auf der Wohnzimmercouch und schaute lächelnd seiner Frau zu, die einen Ausflug durch die eigene Wohnung unternahm. Sie besuchte die Topfpflanzen, besichtigte das Regal und lachte über die bunten Buchrücken, die niemals farblich zusammenpassten, solange man darauf bestand, sie thematisch zu ordnen. Schließlich ging sie in die Knie, um die Fransenkante des Teppichs mit den Fingern zu kämmen.
    Die bunte Patchworkdecke lag ordentlich gefaltet auf dem Sessel. Smutek beobachtete sie mit der Rührung eines Ziehvaters, der seinem Mündel bei den ersten Reitstunden zuschaut. Frau Smutek sah jünger aus denn je. Die wächserne Blässe hatte auch die kleinste Falte in Mund- und Augenwinkeln getilgt, das Haar hing dunkel und strähnig über die Schultern, und ihr Schritt war unsicher wie bei einer Wanderung auf, ja, auf zu dünnem Eis. Sie plauderte über die Möglichkeit einer Hauskatze und eines wärmeren Farbtons für die Wände. Der Nachmittag verging in friedlicher Stimmung, die ganze Wohnung roch nach heißem Tee an kalten Wintertagen. Unschuldig schwieg das Telefon auf seinem Tischchen im Flur. Als Frau Smutek sich am Abend unter ihr farbenfrohes Schachbrett legte und Smutek die Decke rings um den schmalen Leib fest stopfte, waren ihre Augen nicht mehr kalt und salzig wie die einer Teichforelle. Sie sprachen zu ihm. Ich wollte dir noch sagen, dass wir beide, ob Punkt oder Fläche, dieselben Koordinaten teilen. Dasselbe X und dasselbe Y. Smutek küsste sie auf die Stirn, schloss ihr die Augen mit einer Handfläche und setzte sich mit dem Generalanzeiger und einer Flasche Wein an den Küchentisch.
    Eine grundlose Unruhe, die ein empfindsamer Mensch als böse Vorahnung gedeutet hätte, hielt ihn vom Lesen ab, so dass er begann, die Hohlräume der Buchstaben mit einem roten Kugelschreiber auszumalen. Penibel achtete er darauf, nicht über die Außenlinien zu fahren, als ob durch derartige Akkuratesse alles

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