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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Moment seines quasimodischen Lebens, in dem er eine unvergleichliche Eleganz entfaltete. Er sprang mit ausgebreiteten Armen, den halslosen Kopf nach oben gereckt, als ob die geplante Flugbahn ihn aufwärts führen sollte, und einen Augenblick schien es tatsächlich, als würde er sich am Punkt aufgehobener Schwerkraft dafür entscheiden, nicht in die Tiefe zu stürzen, sondern ruhig auf der Luft liegen zu bleiben, um nach majestätischer Art der Adler ein oder zwei Runden über dem Schulhof zu kreisen, an Höhe zu gewinnen und über den Fluss hinweg ins Siebengebirge zu entschweben.
    Ada stand seit einer Viertelstunde an der Treppe zum Haupteingang und führte eine von Alevs Anweisungen aus, indem sie auf ihn wartete. Schüler aller Altersstufen zogen an ihr vorbei, mit bunten Plastiktornistern, wetterfesten Rucksäcken oder naturledernen Ranzen, zu zweit, zu fünft, manche allein, plaudernd, lachend, einander in die Seiten stoßend. Niemand hob den Blick in den Himmel. Die Mädchen strählten mit nervösen Fingern ihre Mähnen, warfen das Haar hinter die Schultern und holten es wieder nach vorn. Die Älteren rauchten, wenige schwiegen, niemand blieb. Einstweilen trieb Alev sich im Gebäude herum, verhandelte, traf Verabredungen, fand heraus, was es herauszufinden galt. Seit drei Tagen erwachte Ada mit dem Gefühl, in einen surrealistischen Film geraten zu sein, über den sogar der Regisseur die Kontrolle verloren hatte. Sie ging mit der festen Überzeugung zur Schule, dass kein wie auch immer gearteter Plan existiere, dass ihre Entjungferung eine ausgewachsene Form des Doktorspiels dargestellt habe und Alevs Absichten hiermit an ihr Ende gelangt seien. Aber es bedurfte nur eines sardonischen Lächelns und eines Seitenblicks aus spitzwinkligen Augen, um Ada daran zu erinnern, dass Spiele, die man mit Alev spielte, andere Namen trugen. Weil sie das Gesetz des Schweigens beherrschte, wartete sie ruhig auf eine Kontaktaufnahme, die nach den ungeschriebenen Regeln ihres Zwei-Mann-Kodex ihm oblag. Sie war vorbereitet gewesen auf den Augenblick, in dem er ihr die Haare über dem rechten Ohr beiseite geschoben und flüsternd in aller Höflichkeit gebeten hatte, sie möge nach der letzten Stunde am Haupteingang stehen.
    Schließlich kamen keine Schüler mehr nach, der Strom war versiegt, das Gebäude ausgeblutet, Ada war allein mit der Fläche bunt gestreiften Asphalts. Sie stand ein paar Meter von der Hauswand entfernt am Fuß der Eingangstreppe. Hätte sie den Kopf in den Nacken gelegt, wären ihr Höfis Fußspitzen aufgefallen und vielleicht auch die Spitze seiner Nase, die, in weitwinkliger Verkürzung zwischen den Schuhen gelagert, von Zeit zu Zeit über dem Rand der Regenrinne erschien, wenn er sich vorbeugte, um nachzusehen, ob endlich der Allerletzte zum Mittagessen entschwunden sei. Als besagter Sonnenstrahl die schlampige Wolkenherde teilte und die Klinkerfassade von Ernst-Bloch erfasste, so dass die Lichtatmosphäre sich wie beim Hochfahren eines Theaterscheinwerfers änderte, schaute Ada verwundert nach oben. Ein Schatten löste sich vom Dach.
    Die maximale Fallgeschwindigkeit eines Menschen wird auf 250 Kilometer pro Stunde geschätzt. Wenn man wegen der vergleichsweise geringen Höhe des Dachs und Höfis ungünstiger Lage in der Luft eine durchschnittliche Geschwindigkeit von zwanzig Metern pro Sekunde annähme, wären ihm und Ada bis zum Aufschlag höchstens zwei Sekunden Zeit verblieben, um sich ein paar Dinge durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn allerdings schon eine Sekunde allen denkbaren Ereignissen gleichzeitig Platz bieten könnte, kann in zwei Sekunden die Welt gleich doppelt bedacht werden. Über Höfis letzte innere Worte ist nichts bekannt.
    Ada erkannte ihn, kaum dass seine Gestalt im Ganzen über der Kante erschien. Ihre Gedanken rekapitulierten keineswegs ihr oder sein gesamtes Leben, sondern die kleine Zeitspanne, in der sie vor kaum einer halben Stunde noch Unterricht bei diesem dunklen Vogel gehabt hatte. Er hatte wie stets hinter dem Lehrerpult gekauert und durch keine Regung, kein Dehnen des Rückens oder Strecken des Halses verraten, dass er fliegen konnte. Kein Schatten eines Flügels hatte die Wand gestreift. Sie hatten von Politik gesprochen, genauer gesagt: vom Terrorismus. Immer wieder vom Terrorismus.
    Wäre Höfi nicht von Natur aus kauzig und unangepasst gewesen, hätte den Schülern auffallen können, dass er an diesem Tag offensichtlich nicht plante, eine Unterrichtsstunde

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