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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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ob er außerhalb der engen Stadt, in der sie ihn kennen gelernt hatte, nicht zu verblassen beginne. Grüttel und Bastian brachten Glasröhren, hielten sie wie durchsichtige Rüssel vor die Gesichter und verwandelten sich in merkwürdige Tiere mit verschlungenen Gliedmaßen, zugekniffenen Augen und Frisuren, die auf englische Weise perfekt ungeschnitten waren. Alev und Ada saßen als Königspaar auf dem einzigen Diwan, Ada durfte schweigen, auch schlafen, während Alev die Welt erklärte, Anweisungen gab, sein Gefolge zum Lachen brachte. Nach einer Weile begriff sie, dass Smuteks unfreiwillige Geschenke an diesem Abend die ganze Gruppe freihielten.
    Der Nieselregen hatte sich in Nebel verwandelt. Es war Nacht, Vormittag, Nachmittag, es wollte nicht hell werden, oder vielleicht war es nicht richtig dunkel geworden. Alev brachte sie auf die Straße, die anderen waren verloren gegangen, und Ada konnte sich nicht erinnern, wann sie einen von ihnen zuletzt gesehen hatte. Die Straßenlaternen schlossen orangefarbene Blasen aus Licht um die Menschen in den Gassen, stolpernde, wispernde, rennende, lachende Menschen, die alle ein Alter teilten, jenes der inneren Obdachlosigkeit. Von der Dunkelheit geglättete Gestalten, dreckige Jeans und Federboas, Münder aus Lippenstift, die sich beim Sprechen durch die Gesichter fraßen. Alev hatte Adas Arm gefasst, sie legte den Kopf in den Nacken und ließ sich führen. Oberhalb der Laternen herrschten Ruhe und Frieden, Licht und Schatten lagerten liebend nebeneinander. Alte Häuser standen nach vorne geneigt, als wollte auch der Giebel beobachten, was sich zu seinen Füßen abspielte. Ziegel-türmchen, scharf gegen den Nachthimmel gezeichnet, durchhängende Telefonkabel, auf denen ein Eichhörnchen als schwankender Seiltänzer die nächste Gracht von Mast zu Mast überquerte.
    Als Alev sie anstieß, holte Ada den Blick von den Dächern herunter und sah ihm versehentlich direkt in die Augen. Sie meinte, es müsse zu einem Kurzschluss ihrer beider Gehirne kommen, der sie in einem Klumpen verschmelzen und zurücklassen würde als erstarrtes Gebilde, in dem Gott-weiß-wer die Zukunft lesen mochte. Die Mülltonnen waren voller geworden, die Konzertplakate älter, die Hauseingänge feuchter. Auf mancher Stufe ein Glücklicher, die Nadel im nackten Arm wie einen fehlgegangenen Dart-Pfeil.
    Hier ist es richtig. Alev hielt eine Tür auf und ließ sie eintreten. Tageszeiten müssen draußen bleiben.
    Auf den abgeschabten Sofas im Raum saßen Mädchen verteilt und wirkten wie die entflohene und heruntergekommene Mittelstufenklasse eines Pensionats. Sie trugen Jeans Größe sechsundzwanzig und kurze Hemden, keine schien wesentlich älter als fünfzehn zu sein.
    »Welcome home sweethearts be our guests!«, rief eine mit rasiermesserscharfem Pony hinter der Bar und stieß dabei mit der Zunge an die Zähne, als wäre ihr gestern erst die Zahnspange entfernt worden.
    »Hier wirst du dich wohl fühlen«, sagte Alev. »In gewisser Hinsicht sind sie alle wie du.«
    Sie waren die einzigen Gäste. Kaum saßen sie in einer weichen Ecke, kamen die Mädchen einzeln vorbeigeschlendert. Alev verteilte Zigaretten und Fünf-Euro-Scheine zum Zeichen, dass er nichts Bestimmtes von ihnen wollte, und sie verzogen miauend die kleinen Münder, oh honey I love you!, sprachen in Songtexten, nahmen Adas Gesicht zwischen beide Hände und gaben Wespenküsse, kurz gelandet und gleich wieder vertrieben. Ada schaute in alle Gesichter, wie sie seit Monaten und Jahren in kein Gesicht geschaut hatte, es lebte und tanzte und lachte vor ihren Augen, kein Elend, kein Verderben, fröhliche Mädchen, noch nicht ganz aus dem Spielkindalter heraus, eingerichtet im leeren Raum zwischen zwei Welten, in denen jeweils eine Menge Verzweiflung und Traurigkeit auf sie wartete.
    »Siehst du, Kleinchen.« Alev trank Gin. »Ein schöner Abend.«
    Erschöpft lagen sie in den Polstern, vom Sofa weich umarmt, und gehörten vollständig dazu, als hätte man sie schon vor langer Zeit gemeinsam mit dem Mobiliar in die Kneipe getragen. Ein halber Liter Wein schaukelte in seiner Karaffe und ließ einen roten Lichtpunkt über die Tischplatte kreisen. Das erste Glas leerte Ada gegen den Durst. Der ungewohnte Alkohol trug ihr die Welt auf Fließbändern entgegen, Farben, die nicht das Auge, Gerüche, die nicht den Magen belästigten. Welcome home be our guest. Vergiss die Menschheit, hier hast du es mit Menschen zu tun. Die kleine Sportliche mit

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