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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Irokesenfrisur, die Rothaarige, an der alles lang war, die Dunkle hinter der Bar mit den flinken Händen, die nach Gläsern wie nach flüchtenden Mäusen schnappten - sie alle hatten Eltern, vielleicht Freunde und irgendeine Sorte Zuhause, und durch ihre Köpfe wälzte sich der übliche, unausgesetzt plappernde Gedankenstrom. Draußen gab es noch sechs Milliarden weiterer solcher Gedankenströme, weibliche und männliche, die ihre Zeit auf Erden verschwatzten und schließlich, wenn sie nichts zu Papier gebracht hatten, rückstandslos verloschen. Am Ausgang des Universums musste ein Schild stehen: Bitte verlassen Sie den Raum so, wie Sie ihn vorfinden möchten. Der Widersinn der Aufforderung enthielt bereits die Unendlichkeit. Man brauchte weder Himmel noch Hölle, um körperlose menschliche Geister auf ewig zu verwahren. Man brauchte nur die ewige Wiederkehr. Ada wusste nichts von diesen Mädchen, und sie wusste nichts von den Geschichten, die sechs Milliarden Menschen sich selbst erzählten. Selbst von Alev, dem sie sich so eng verbunden fühlte, wusste sie nur, dass er einen Bruder besaß, dem sie nie begegnet war, und früher Handtücher gegen die Wand geschlagen hatte, um sie zu züchtigen. Solange er nicht sprach, hatte sie keine Ahnung, was in ihm vorging.
    Das zweite Weinglas hatte sie zur Hälfte geleert, als ihr etwas auffiel. Zwischen all den Menschen, die wie Bücher mit leeren Seiten in der Rumpelkammer ihres Gedächtnisses lagen, gab es einen, über den sie etwas zu erzählen wusste. Während gemeinsam gerannter Runden hatte er unablässig von sich selbst gesprochen. Ausgerechnet Smutek war eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und einem Ende, das sich vorausahnen ließ.
    Alev, der bis dahin die Augen geschlossen gehalten hatte, fragte, worüber sie lache.
    »Ich weiß inzwischen so viel über ihn. Sein Zimmer im Asylantenheim hatte er mit Gedichten gepflastert. Er schrieb sie aus einem Buch ab, das ihm als einzige Habe verblieben war, und hängte sie wie Bilder gerahmt an die Wand. Ich kann eins der Gedichte sogar zitieren. Zbigniew Herbert.«
    Alev hob eine Augenbraue und verzog den Mund, natürlich wusste er, von wem die Rede war. Seine Miene enthielt wahrlich keine Aufforderung zum Weitersprechen, aber Ada war schon mittendrin. Sie schaute zur Decke und genoss die exakte Gestalt von Wörtern und Sätzen, die ihr über die Lippen rannen.
    Ada erzählt etwas, weil sie es weiß. Ein Polizeiauto beendet den schönen
    Abend
    D as Wesen seiner künftigen Frau erkannte Smutek, als sie ihn zum ersten Mal in seiner ärmlichen Behausung besuchte und allen Protesten zum Trotz die Schuhe auszog, um Smuteks acht Quadratmeter Übergangswohnheim nicht mit feuchten Herbstblättern zu beschmutzen. Die Socken unter den schmalen Stiefeletten waren aus Wolle, blau und so abgetragen, dass die Form der Zehen hell durch das Gewebe schimmerte. Smutek wusste, was ein solches Paar Strümpfe für eine Polin bedeuten musste. Im Verlangen, die Schuhe dennoch abzulegen, lag das ganze Elend eines starken Charakters.
    Sie inspizierte sein Zimmer; den metallenen Spind, der an die Schließfächer einer Sporthalle erinnerte, die Gefängnispritsche, den Kinderschreibtisch mit zwei Stühlen davor und das hüfthohe Regal, in dem eine Zahnbürste, eine Fusselrolle und Schuhputzzeug akkurat auf drei Fächer verteilt waren. Smutek stand in der Ecke und schaute ihr zu. Einige Male sah sie mit glänzenden Kohleaugen und weich geöffneten Lippen zu ihm hinüber. Verwundert lächelte er zurück, ohne zu begreifen, warum ihr diese Zelle so gut gefiel, warum sie ihn beneidete um sein Flüchtlingsleben, das ihr mannhaft und wahrhaftig erschien, während sie sich für die eigene Existenz als Deutsche nach dem Grundgesetz schämte. Aus Verlegenheit und weil er ihr etwas schenken wollte, nahm Smutek einen Rahmen von der Wand und drückte ihn ihr mit beiden Händen vor die Brust. Trzymaj, to dla Ciebie. Höflich verbarg sie ihren Ekel vor allen Devotionalien polnischer Kultur, saß eine Stunde lang auf der Pritsche mit dem Gedicht auf dem Schoß und trank Kaffee ohne Milch.
    Niemals konnt ich an deine hände denken ohne zu lächeln / und nun da sie auf dem stein wie abgeschüttelte nester liegen / sind sie genauso schutzlos wie vorher das eben ist das Ende.
    Beim nächsten Treffen forderte sie die Geschichte seiner Deportation als Eintrittskarte zu ihrem Herzen. Erst ungern, dann routiniert berichtete Smutek davon, wie man ihn nach fünfmonatiger

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