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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gesammelt, die er zertrümmerte, als genug zusammengekommen war. Am Freitag vor den Osterferien sprach Ada bei der Mutter vor und verlangte ein vogelfreies Wochenende mit Freunden. In Anerkennung der elterlichen Sorgeberechtigung beantwortete Ada einige Fragen, wer fährt noch mit -kennst du nicht, ist Alev wirklich schon volljährig - ja. Die Mutter legte den Stift auf die verrutschten Papierstapel mit römischen Ziffern, Spiegelstrichen und Paragraphen, die den Schreibtisch in ihrem Zimmer bedeckten, und lächelte listig.
    »Da macht ihr euch strafbar, nicht?«
    Ada stand sekundenlang wie aus Stein, bis das Lächeln der Mutter in Gelächter zerplatzte.
    »Guck nicht so! In Wahrheit interessiert das doch keinen.«
    Endlich hatte Ada verstanden: Alev achtzehn, sie fünfzehn, schon so wenig reichte für irgendein Strafgesetz, und sie musste mitlachen, über sich selbst und darüber, dass sie ohne zu lügen erwidern konnte: »Weißt du, wir haben gar keinen Sex.«
    Die Mutter umarmte sie, wie echte Mütter echte Töchter umarmen, du bist ein kluges Kind, viel klüger als die anderen, habt Spaß am Ijsselmeer.
    Auf der Rückbank saßen sie zu dritt, Alev in der Mitte, die kurzen Beine auf die teppichbeklebte Mittelkonsole gestellt. Die Wärme der Körper im engen Wagen erzeugte eine Blase aus Wohlbefinden, wie sie zwischen Kindern unter einer gemeinsamen Bettdecke entsteht. Ada saß in die Ecke der Sitzbank gelehnt, die Stirn an der Scheibe, über die der Regen zuckende Geschwindigkeitsstriche zog. Als Alevs bevorzugte Spielkameradin genoss sie Immunität, die es den anderen Jungen verbot, sie auch nur anzusprechen. Man störte sie nicht beim Nachdenken.
    In den letzten Wochen war die Zeit viel zu schnell vergangen. Die Sekunden schossen auf jenen ständigen Fluchtpunkt zu, den der Mensch immer vor Augen und niemals in Reichweite hat und je nach Belieben entweder Horizont oder Zukunft nennt. Ausgerechnet Ada schien als Einzige zu bemerken, dass die freitäglichen Stelldicheins nach der vierten Wiederholung den kreidigen Geruch einer Schulstunde annahmen. Trotz handelsüblichen Phlegmas hielt sie das Gehen auf ebenem Boden nicht aus, sie brauchte abschüssigen Grund. Aber sie war nicht zuständig für die Frage, ob etwas richtig lief oder falsch. Das war Alevs Angelegenheit. Dieser wirkte entspannt wie ein Pilger, der Woche für Woche eine Etappe hinter sich bringt, zufrieden, endlich unterwegs zu sein, und noch zu weit vom Ziel entfernt, um sich zu beeilen. Ein wenig geistesabwesend klimperte er das Musikstück, das er mit so viel Mühe komponiert hatte. Um ein Abschweifen seiner Aufmerksamkeit zu verhindern, wäre Ada zu manchem bereit gewesen. Alev jedoch verlangte nur, den gefundenen Rhythmus einzuhalten: donnerstags Vorbesprechung, freitags Turnhalle, dienstags Hochladen der Bilder auf die Homepage von Ernst-Bloch.
    Während sie die Rheinmagistrale Richtung Autobahn befuhren, überlegte sie, ob auch Smutek das Nachlassen in Alevs Konzentration zu spüren begann. Beim letzten Treffen war Smutek anders gewesen. Vielleicht hatte sie ihm unabsichtlich einen Hinweis zukommen lassen, dass sich das Spiel nach seiner nächsten Stufe sehnte. Oder er hatte sich für eine Taktik entschieden, die darin bestand, die Mauern nach dem schwächsten Punkt abzuklopfen. Jedenfalls war plötzlich etwas zwischen ihnen gewesen, das sich einer beidseitig schiefen Ebene vergleichen ließ, über die sie langsam aufeinander zu rutschten. Bislang hatte das Spiel aus zwei Achsen bestanden, von denen eine zwischen Ada und Alev, die andere zwischen Alev und Smutek verlief. Die Aussicht, es könne sich etwas Drittes entwickeln, das Ada selbst noch nicht verstand, brachte ihr Zwerchfell zum Kribbeln. Sie rutschte tiefer in den Sitz und streifte Alev mit einem schnellen Seitenblick. Er unterhielt sich zwischen den Sitzbänken hindurch mit Grüttel und Bastian. Toni, der rechts von ihm saß, beteiligte sich nicht am Gespräch.
    Von diesen neuen, zarten, halb durchsichtigen Bewegungen hatte Alev nichts bemerkt. Als Smutek sich hingekniet hatte, um entsprechend der Anweisungen das Gesicht zwischen Adas gespreizten Beinen zu vergraben, war es ihm gelungen, unbemerkt von Alev, der hinter ihm mit der Kamera hantierte, einen seltsam eindringlichen Blick in ihre Augen zu manövrieren. Er schaute sie an, als versuchte er verzweifelt, ihr im überwachten Besuchsraum eines Gefängnisses ohne Worte etwas Wichtiges mitzuteilen: Ob er unschuldig sei oder nicht.

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