Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Abstellgleis geschoben hatte und gestorben war, ohne seine Anweisung zurückzunehmen. Das stolze Gesicht blieb unerbittlich dem weißen Morgenhimmel zugewandt, während die Mutter ihre fühllosen Wangen küsste und lautlos hinter einer unüberwindbaren Grenze verschwand, die Gegenwart und Vergangenheit für immer voneinander schied.
    Smutek bewunderte und fürchtete ihren politischen Lyrismus. Mit gesenktem Kopf lauschte er den Hasstiraden auf die russische Leiche Polens und hatte den irrationalen Eindruck, dass seine künftige Frau ihn für irgendetwas schelte. Ihr Altersvorsprung von zwei Jahren lastete wie das Gewicht einer ganzen, über ihm stehenden Generation im Genick. Er ahnte noch nicht, dass er im Begriff stand, seine Mutter an eine Lüge zu verlieren.
    Weil Ada eine Pause einlegte und den trockenen Hals mit Rotwein befeuchtete, schlug Alev die Augen auf.
    »Warum erzählst du mir das alles?«, fragte er.
    »Weil ich es weiß«, sagte Ada.
    »Es ist die erbärmliche Geschichte von einem, der gern gehorcht. Hat sie ein Ende?«
    »Das Ende, mein Lieber, liegt derzeit in deinen Händen. Es sollte dich interessieren, den Anfang zu hören.«
    Alevs Miene hellte sich auf, geschmeichelt betrachtete er die langen Fingernägel jener Hände, in der alle Fäden zusammenliefen, packte sein Ginglas und leerte es in einem Zug. Während das Barmädchen unaufgefordert ein frisches brachte, Aschenbecher wechselte und eine Zigarette schnorrte, fragte Ada sich, ob draußen schon ein neuer Tag in voller Blüte stehe und die Mädchen heimlich in Schichten durch neue ersetzt würden, damit die Gäste nicht merkten, wie sie in dieser Höhle den Anschlusszug zurück ins Leben verpassten.
    »Dann sprich weiter.« Alev lehnte sich zurück und sah gleich wieder aus, als schliefe er.
    Vorsichtig hatten Smutek und seine künftige Frau begonnen, miteinander auszugehen. In den Kreuzberger Kneipen wählten sie stets jenen Tisch, der im fensterlosen Winkel zwischen Zigarettenautomat und Durchgang zur Küche stand. Von dort aus überblickten sie mit Rücken zur Wand den ganzen Raum, tranken Wein statt Wodka und behandelten einander mit ausgesuchtem Taktgefühl, das den besonderen Umständen ihrer Begegnung zu entsprechen schien. Die künftige Frau Smutek verdiente Geld durch Polnischkurse und fügte der männlichen Eigenliebe mit jeder bezahlten Zeche eine neue Schürfung zu. Ansonsten geschah nichts. Das Leben ereignete sich um sie herum in allen Facetten, ohne die Anwesenheit der beiden Zuschauer zur Kenntnis zu nehmen.
    Es war ihre Idee, billig kopierte Zettel mit Hinweisen auf Partys und andere Zusammenkünfte von Stromverteilerkästen und vernagelten Haustüren abzureißen. Bald sammelten sich zwischen deutschen Lehrbüchern und Vokabelzetteln die bunten Wurfsendungen des quirligen und unzugänglichen Berlins. Sie schlugen Adressen im Stadtplan nach und redeten einander zu: Vielleicht gehen wir hin.
    Nach langer Bedenkzeit fiel die Wahl auf eine Hausbesetzer-party, die orangefarbenes Papier als Grundlage für ihre Ankündigung verwendet hatte. Betäubt vom Lärm, erklommen Smutek und seine künftige Frau Stockwerk um Stockwerk eines verrotteten Stadthauses. Überall hielten Menschen sich lachend und schreiend an Wänden und Türstöcken fest. Sie tranken aus Plastikbechern, die an der aus Bierkisten errichteten Bar mit den Namen der Besitzer beschriftet wurden. Smutek und seine Begleiterin zwängten sich durch Wohn- oder Schlafzimmer, Küchen und Bäder, von denen die meisten bewohnt waren. Unbezogene Matratzen lagen in allen Ecken. Es galt, immer weiter an feuchten Wänden entlangzugehen, ein Stockwerk höher oder tiefer zu steigen, in Bewegung zu bleiben, um nicht sprach- und reglos in einer Ecke zu stranden und als das entdeckt zu werden, was sie zu sein glaubten: Eindringlinge aus einer fremden Welt. Inmitten einer Herde von Punks, Totalverweigerern und Anarchisten, deren Geschlecht sich nur bestimmen ließ, wenn sie bärtig waren oder halb nackt, fielen die beiden Polen in ihrer unausweichlichen Eleganz nicht weniger auf als ein Gruftiepärchen in einer Gruppe Frankfurter Börsenmakler.
    Staunend beobachtete Smutek, wie das schneewittchengleiche Mädchen, an dessen Existenz in seinem Leben er noch immer nicht recht glaubte, durch das schmutzige Gedränge glitt. Es schien ihr zu gefallen. Weil er den Barmann nur halb verstanden hatte, trug auch ihr Plastikbecher seinen Namen. Smutek war zu verwirrt, um zu erkennen, dass es sich um

Weitere Kostenlose Bücher