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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Mehr verstand sie nicht. Die sekundenlange Besuchszeit war vorbei gewesen, als Alev etwas gesagt hatte: Falls Sie planen, über Ostern in den Urlaub zu fahren, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass schulische Verpflichtungen entgegenstehen.
    Smuteks Finger hatten sich in Adas Schenkel gekrallt, und als es ihm auffiel, tätschelte er die gequetschten Stellen wie den versehentlich misshandelten Rücken eines braven Pferds. Wahrscheinlich hatte er an sein Häuschen gedacht und daran, dass es keinen Ort mehr gab, an den er in den Ferien fahren konnte.
    Als Ada wenig später die Dusche verließ, war er hinter sie getreten und hatte zu flüstern begonnen, du immer mit deinen nassen Haaren, es ist doch noch kalt draußen, so kalt. Er schloss sie fest in die Arme, dass sie sein Zittern spüren konnte, es hatte ihn am ganzen Körper erfasst, die Kniescheiben, den Brustkorb, die Lippen und natürlich die Hände. Seine Kraft erschien ihr fast maschinell. Er presste sie immer brutaler an sich, als könnte er auf diese Weise eins mit ihr werden, nicht im geschlechtlichen, sondern im mechanischen Sinn, wie man zwei Plastikteile, die nicht zueinander passen wollen, mit Gewalt und auf die Gefahr hin, dass sie zerbrechen, an ihre Plätze zwingt.
    Etwas war eingeklinkt, das Zittern hatte aufgehört, und plötzlich lachten sie sich an wie Grundschulfreunde, die, alle Taschen voller Kirschen, gemeinsam dem alten Nachbarn davongelaufen sind. Während sie sich anschauten, begann Ada zu ahnen, dass etwas Größeres möglich war, ein Beherrschen, das nicht einmal Alev sich auszudenken vermochte, weil es allein in Adas Macht stand, darüber zu verfügen. Dieser große, erwachsene Mann brauchte etwas, das nur sie besaß.
    Dann war auch dieser Augenblick vorbei. Smutek hatte den Kopf geschüttelt und ihr mit flacher Hand auf den Rücken geklopft, als hätte sie soeben eine neue persönliche Bestzeit erreicht.
    Vergesst nicht abzuschließen.
    Sie war ohne Antwort zurückgeblieben, ohne Antwort auf die Frage, ob soeben etwas zwischen ihnen geschehen sei, und wenn ja, was?
    Das Auto erreichte die Ausfallstraße, Adas Gedanken lösten sich auf. Der Nieselregen draußen inszenierte eine ewig dunkle, ewig träumende Welt. Die Betonbeine der Rheinbrücke, unter der eine Ampel sie stoppte, stammten von dickhäutigen Tieren. Auf der Beschleunigungsspur fuhr Grüttel die Gänge aus, Ada überließ ihren Körper dem Konflikt zwischen Masseträgheit und Geschwindigkeit, genoss den Geruch feuchter Kleidung und das Glänzen der Scheitel unter der Innenbeleuchtung und bat um einen schnellen, sanften Tod.
    Irgendwann waren sie einfach da, standen auf dem Steg eines Hausboots und warteten auf Grüttel und Bastian, die schon zum zweiten Mal jemanden in der Menge erkannt hatten und Wiedersehensfloskeln auf Englisch tauschten. Große Teile der Seitenwände des Boots waren durch Glasscheiben ersetzt worden. Im Inneren hockten die Gäste dicht beisammen und wirkten auf ihren Barhockern zusammengepfercht wie Riesenvögel in einer Straußenfarm. Toni ging voran und bahnte einen Weg durch die schmale Eingangstür.
    Viele kleine Lautsprecher spielten ein Lied, das Ada früher fast so sehr gemocht hatte wie Don Camisi. Jessie, paint your pictures about how it's gonna be. Aus Gedränge und Rauchschwaden tauchte ein Mädchen auf, das noch jünger sein musste als sie selbst. Klar und starr wie ein Bilderrahmen umschloss Adas Blick dieses Gesicht, strohgelbes Haar umgab es wie Sonnenstrahlen. Ada sah kurz gekaute Fingernägel, die knallrot lackiert waren, leuchtend wie Marienkäfer ohne Punkte, und die zu zehnt aufstiegen, als das Mädchen sich mit beiden Händen die Strähnen aus der Stirn strich. Für eine Sekunde glaubte Ada, das Mädchen wolle sie begrüßen, sie mit sich ziehen, ihr etwas sagen. Jessie, you can always sell any dream to me. Dann drehte ein Junge sich um, er war in Alevs Alter, trug die Haare lang, dass sie ihm in schwarzen Spiralen über die Schultern fielen, und bewegte sich mit der verhaltenen Kraft eines Jagdtiers. Jessie! Das Mädchen duckte sich zusammen und schlüpfte an Ada vorbei Richtung Ausgang, wurde von den Rücken ihrer Begleiter vertilgt und war verschwunden. Ada blieb zurück, gebannt von einem Déjà-vu, bis Alev sie an den Ellenbogen packte und vor sich her in den überfüllten Raum schob.
    Sie sprach wenig, und wenn etwas gesagt wurde, verstand sie die Bedeutung nicht. Die meiste Zeit schaute sie Alev an, als wollte sie überprüfen,

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