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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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von Ada und Alev zu erzählen, und weil er inmitten einer Auferstehungsszenerie nicht mit Belanglosigkeiten um sich werfen wollte, zog er sich den Märchenklang der polnischen Sprache wie Gummihandschuhe über und begann, von Höfi zu sprechen.
    Manchmal geschehen Dinge, sagte er, deren tieferer Sinn uns verschlossen bleibt. Sie können uns eine geliebte Person zum Fremden machen. Eine winzige Verschiebung im Kopf, und der Mensch tut etwas, das wir niemals für möglich gehalten hätten. In dieser geheimen Unzuverlässigkeit liegt vielleicht der größte Schrecken, den die Welt für uns bereithält.
    So redete Smutek und spürte dabei, wie ein anderes Gespräch von hinten aufholte, in gleicher Geschwindigkeit nebenherlief und ihn dazu verführen wollte, in vollem Lauf die Spur zu wechseln und über sich selbst zu sprechen. Frau Smutek sah ihn verwundert an. Sie spießte einzelne Erbsen auf die Gabel und schob sie in den Mund. Um den linken Zeigefinger wickelte sie eine lange Haarsträhne, bis diese eine dicke Spule ergab, ließ sie los und begann von neuem. Schon immer hatte Smutek die Fähigkeit der Frauen bewundert, mit der rechten und linken Hand völlig unterschiedlichen Beschäftigungen nachzugehen.
    Wir müssen froh sein, hier zu sitzen, in unserem warm erleuchteten Käfig, während draußen, Smutek zeigte wie ein Wanderprediger zur Balkontür, an deren Scheiben sich die Nacht das schwarze Gesicht platt drückte, während draußen ein unerbittlicher Kampf tobt, der täglich einen Großteil der Menschheit verschlingt.
    »Und wieder hervorbringt.«
    »Wie bitte?«
    Frau Smutek hatte die Gabel neben den Teller gelegt, das Gesicht zur Decke erhoben und wiederholte den Halbsatz: Und wieder hervorbringt.
    Gewiss, sagte Smutek. Wir müssen glücklich sein. Wir sind aufs Glück verpflichtet, es steht in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu unseren Geburtsurkunden.
    Seine Frau lauschte mit schräg gelegtem Kopf in die leere Fertigungshalle in ihrem Inneren und vernahm den Widerhall von Sätzen, die von einer anderen Person zu stammen schienen. Wir sind in einen Krieg hineingeboren. Wir sind Opfer der Geschichte. Lächelnd fasste Smutek ihre Hand und drückte zu, als fasste er den Nacken eines Hundes, der endlich begriffen hat, dass er nicht bellen soll, wenn der Nachbar draußen an der Tür vorbeigeht. Seine Finger hinterließen blutleere Flecken auf ihrer Haut. Er sammelte die restlichen Erbsen auf seinem Teller mit dem Löffel ein und verklebte sie mit dem letzten Rest Kartoffelpüree. Er war seinen Verfolgern, die ihn zu einer irrsinnigen Beichte verleiten wollten, mit ein paar Haken davongerannt.
    »Wir haben uns«, sagte er eindringlich und hatte damit die perfekte Überleitung gefunden. »Ich muss dir etwas Schreckliches mitteilen. Höfi ist tot.«
    »Weiß ich«, sagte seine Frau.
    Es war kaum zu vermeiden gewesen, die Notiz in der Rubrik Vermischtes zu entdecken. Die Hohlräume sämtlicher Buchstaben waren mit Kugelschreiber ausgemalt gewesen. »Ich dachte mir gleich, dass du Zeit brauchst, um darüber zu sprechen.« Sie schob die abgegessenen Teller beiseite, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und fasste ihm an die Wange. »Ich freue mich, dass es dir besser geht. Endlich bist du wieder du selbst.«
    Endlich wieder wer?
    Smutek antwortete nicht. Er hielt sich an der Tischkante lest, um sich mit Hilfe der Berührung daran zu erinnern, dass sie sich an einem gewöhnlichen Ort befanden und nicht kopfüber, kopfunter im Orbit kreisten. Er begrüßte den Einfall, dass Frau Smutek womöglich den Glauben an seine Krankheit und Heilung brauchte, um mit ihrer persönlichen Genesung zurecht-zukommen. Ein Fachmann hätte einen griechischen Begriff dafür gewusst.
    Sie hatten sich an einem Punkt getroffen, der beide beglückte. Was Smutek bei einem solchen Gespräch am wenigsten behinderte, war sein Gewissen. Die Überzeugung, dass die Turnübungen auf hellblauem Untergrund unter anderem dazu dienten, ihm aus seiner alten Haut herauszuhelfen und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, das wiedererwachte Schneewittchen zum zweiten Mal kennen zu lernen, war so klar und strahlend, dass sich die nebligen moralischen Landschaften dahinter blass ausnahmen wie die umliegende Wüste hinter den Leuchtreklamen von Las Vegas. Nie hatte der katholische Gott sich schwächer gezeigt.
    Ein schöner Abend
    S muteks Fünfzig-Euro-Scheine wurden nicht in Jeanshosen oder CDs investiert, sondern von Alev in einer leeren Bierflasche

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