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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Haft über den Gefängnishof und in einen schmutzig grauen Kastenwagen getrieben hatte. Er solle dankbar sein, rief eins der Maschinengewehre ihm zu, dass man sich seiner nicht auf andere Weise entledige, und als Smutek sich nach allen Regeln der Höflichkeit bedankte, erhielt er den wohlmeinenden Rat, Kontakte zu seiner Familie bis auf weiteres zu vermeiden.
    In der totalen Dunkelheit der Fahrt ging jedes Zeitgefühl zum Teufel, alles Selbstverständliche verlor an Überzeugungskraft. Weil das Auge in der Schwärze nicht den kleinsten Anhaltspunkt fand und weil der Körper, gerüttelt von einem Untergrund, der weniger Straße als offenes Feld zu sein schien, jedes Gefühl für sich selbst verlor, wurde die eigene Existenz zum Zweifelsfall. Smutek betastete mit allen zehn Fingern das Gesicht, um herauszufinden, ob er sich wiedererkannte. Manchmal öffnete sich die hintere Tür, um etwas Luft hereinzulassen, die Smutek gierig trank. Er sah Nacht, den Lauf eines Maschinengewehrs und die Schemen eines Waldes im Hintergrund. Falls er diesen Käfig jemals wieder verlassen würde, glaubte Smutek, sich am Ausgangsort seiner Reise wiederzufinden, in einem Krakau, in dem ihn niemand mehr kannte. Er glaubte, man transportiere ihn in großem Bogen in eine ferne Zukunft oder Vergangenheit.
    In Westberlin schrieb man das Jahr 1983, wie überall sonst auf der Welt. Man hatte es gut. Man glaubte noch weniger an die Wiedervereinigung als an Gott, war damit beschäftigt, den Atomkrieg zu fürchten, und verlebte das unschuldigste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Musikgeschmack der nachwachsenden Generation war bedrohlicher als die Vorstel-lung, irgendein Pole ohne einschlägige Orts- und Sprachkenntnisse könnte zu Fuß in der großen Stadt Einzug halten. Es passierte zu viel Seltsames, um sich mit Kleinigkeiten aufzuhalten. Als Smutek den Ort erraten hatte, unter dessen Bäumen er das Licht der Welt wieder erblickte, weinte er vor Glück. Zbigniew Herbert steckte ihm hinten im Hosenbund.
    Seine künftige Frau wollte nicht glauben, dass er nicht wusste, warum man ihn ins Gefängnis geworfen hatte. Sie zog es vor, die übertriebene Zurückhaltung eines heimlichen Solidarnosc-Kämpfers an ihm zu bewundern, feierte seine absurde Entscheidung, nicht nur Deutsch zu lernen, sondern auch ein Germanistikstudium zu beginnen, und stellte sich selbst als seine Lehrerin ein.
    Die deutsche Sprache hatte sie hinter verschlossenen Türen und Fenstern gelernt. Obwohl der Großvater sich in den schlimmen Zeiten geweigert hatte, seinen Namen in die Volksliste einzutragen, obwohl er deshalb ein großindustrielles Vermögen verloren hatte und aus Lodz geflohen war, um sich erst vor den Deutschen, dann vor den Russen zu verstecken, war Frau Smuteks Mutter noch lang nach dem Krieg auf der Straße mit Steinen beworfen und in der Schule als hitlerowiec beschimpft worden. Als ihr Vater unter polnischem Kriegsrecht von Militärpolizisten abgeholt wurde, hatte er von der Schwelle in die still hinter ihm liegende Wohnung gerufen: Der Terror ist zurück, bringt das Kind außer Land! Das Kind war zwanzig, wollte bleiben und kämpfen, aber die Nachricht vom Tod des Vaters in Haft machte diese Worte zu seinem letzten Willen. Auf alten Hitlerautobahnen, deren angeschrägte Platten eine ewig abwärts führende Treppe ergaben, fuhr sie mit der Mutter eines Nachts Richtung Westen. Das polnische Kennzeichen klebte der weißen Limousine wie ein Schmutzfleck im Gesicht. Nachdem an zwei Grenzen die Formalitäten erledigt waren, besaß die Familie nichts mehr außer diesem Wagen und einer polnischen Stadtwohnung.
    In Westberlin war ein Einzelzimmer für vier Wochen im Voraus bezahlt. Vor der Tür der Pension stampfte die Mutter ein paarmal auf den Asphalt, als prüfe sie die Tragfähigkeit einer Eisdecke. Hier, mein Kind, liegen deine Wurzeln. Das Einzige, was dir bleibt, ist dein deutscher Name. Noch einmal stampfte die Mutter auf den Boden. Unterdrückung und Flucht gehören zum Biorhythmus unseres Landes. Verfluche nicht die Wiederkehr des ewig Gleichen, das wäre unchristlich. Und dumm.
    Die künftige Frau Smutek verfluchte die eigene Mutter. Sie verfluchte die polnische Erde und ihr eigenes Blut, das dem Willen eines toten Mannes gehorchte. Sie war nicht wie andere polnische Mädchen erzogen, ihr Vater hatte sie zum Krieger gemacht, ihr Platz war an der Seite der Revolutionäre, und sie würde niemals verzeihen, dass er sie in einem Moment der Schwäche aufs

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