Spieltrieb: Roman
geschlossenen Lidern zu Boden sah und die Zigarette dicht vor den Lippen hielt, ohne daran zu ziehen.
»Dann bleibt uns wohl nichts übrig«, fuhr Ada fort, »als die ersten Bomben auf Berlin abzuwarten. Ich bin ganz sicher, dass du, liebe Johanna, in erster Reihe stehen wirst, um die amerikanischen Befreier mit Seele und Leib willkommen zu heißen.«
Sicher hatte niemand der Zuhörer sie jemals so lange am Stück sprechen hören. Einer hob die Hände wie zum Beifallklatschen und ließ sie eine Weile hilflos in der Luft schweben. Erst als Joe den Mund öffnete und wieder schloss, breitete Gelächter sich aus. Der Junge benutzte seine erhobenen Hände, um Joe auf den Rücken zu klopfen, weit unten an einer Stelle, die man beinahe schon >Hintern< nennt.
»Na, Johanna, gehen wir Bombenfangen?«
Joe wandte sich nach rechts, dann nach links, fand den Weg versperrt von Schülern, die sich, die Hände in den Taschen, herzlich auf ihre Kosten amüsierten, und entschied sich zum Rückzug.
»Was ich noch sagen wollte.« Adas Hand schloss sich wie ein Fußeisen um Joes Oberarm und drehte sie halb herum.
»Schröder wird auf jeden Fall wiedergewählt.« Sie stieß die Prinzessin von sich, dass diese ins Stolpern geriet, und wandte sich ab. »Ich hasse Dummheit«, flüsterte sie. »Wie sehr ich Dummheit hasse!«
Die Pausenklingel trieb die Gruppe auseinander wie der Wind ein Häufchen Blätter. Zehn Tage später war Wahl.
Während Smutek vor dem Fernseher die Hochrechnungen verfolgte, dachte er gegen seinen Willen unentwegt an Teuter. Er stellte sich vor, wie Teuter in einem akkurat eingerichteten Wohnzimmer vornübergebeugt auf dem Sofa saß und mit beiden Händen den Hals einer verschlossenen Sektflasche rieb. Am nächsten Morgen hörten Smutek und seine Frau das endgültige Ergebnis im Küchenradio. Smutek freute sich.
»So kommt die Volksrepublik schneller in die EU«, sagte er zum Abschied, und seine Frau zischte durch die Zähne wie eine Natter.
Es war kindisch, sich ausgerechnet diesen Montagmorgen auszusuchen, um bei Teuter, der mit Sicherheit schlechter Laune war, wegen der Leichtathletikgruppe vorzusprechen. Aber Teuter verdiente eine Lektion in Sportsgeist beim freundlichen Gespräch mit dem glücklichen Gewinner. Als sie einander im Treppenhaus begegneten, konnte Smutek nicht widerstehen.
»Wenn Sie einen Moment Zeit haben«, sagte er, »würde ich in der großen Pause gern in Ihr Büro kommen.«
Die Art, wie Teuter den Kopf senkte zum Zeichen des Einverständnisses und wortlos grüßte, schon halb abgewandt, mit einer erhobenen Hand, die winkte oder eine Fliege verscheuchte, entschädigte Smutek ein wenig für die Tatsache, dass er im Begriff stand, sich ausgerechnet heute mit seiner Lieblingsidee zum Idioten zu machen.
Die Gegenwart ist nichts als zukünftige Vergangenheit. Ada und Smutek fliegenrausund tauschen erste Worte
W ährend der folgenden Unterrichtsstunde dachte Smutek darüber nach, welches andere Anliegen er Teuter vortragen könne, um das Leichtathletikgespräch auf ein andermal zu verschieben; aber weil es ihm schon immer an Phantasie gemangelt hatte, fiel ihm auch diesmal nichts ein. Ein Stockwerk über ihm unterrichtete Höfi in der 10B und kämpfte ebenfalls mit einer Lieblingsidee. Er unternahm gerade einen seiner gelegentlichen Versuche, den Schülern eine selbst entwickelte These nahe zu bringen. Für Höfi hatte Geschichte nichts mit Vergangenheit zu tun. Er sprach gern über die Historizität der Gegenwart.
Die ganze so genannte Gegenwart lasse sich überhaupt nur historistisch begreifen, nämlich als ein Stück zukünftiger Vergangenheit. In der Ignoranz kontemporärer Analysen diesem Umstand gegenüber liege der Grund für die inflationär auf allen Kanälen erhältlichen Torheiten, produziert von dem Versuch, auf direkte Weise etwas über unsere Zeit auszusagen. Selbst ein Computer könne keine Aussage treffen über die gegenwärtigen Vorgänge in seinem Inneren, wohl aber über alles, was soeben geschehen war. Ebenso benötige der Mensch die winzige Distanz einer fiktiven Sekunde, um seine Umwelt wahrzunehmen, und erst recht erforderten vielschichtige Gebäude aus Ursachen und Wirkungen, wie das menschliche Zusammenleben sie in jedem Augenblick hervorbringe, einen gewaltigen zeitlichen Abstand, um sich dem rationalen Ordnungsstreben zu unterwerfen. Gegenwart sei undurchdringliches Chaos, die Vergangenheit ein stromlinienförmiges Ding. Um ein wenig Zucht in das gegenwärtige
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