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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Durcheinander zu bringen, müsse man es als Geschichte und damit als etwas Vergangenes behandeln. Das nannte Höfi einen fiktiven Rückblick<, und es war ihm noch nie gelungen, jemanden dafür zu begeistern.
    Weil er aufgrund seiner gnomischen Körperhaltung beim Sprechen zu Boden sah und die Zuhörer nur von Zeit zu Zeit mit heraufblitzenden Blicken bedachte, fiel ihm nicht auf, dass eine Schülerin durch seine Worte in ein starres Abbild ihrer selbst verwandelt wurde. Sie saß mit einem hochgezogenen Knie, den Blick vor sich auf die Tischplatte gerichtet. Ada war dabei, sich an das Entsetzen zu erinnern, das ihrer ganzen Kindheit einen gräulichen Farbton verliehen hatte, seitdem sie entdeckt hatte, dass sich die jeweils aktuelle Sekunde, in der die Welt und damit auch Ada selbst ihr geistiges und körperliches Bestehen genossen, auf keine Weise erfassen ließ. Sie war immer schon vorbei, wenn das Denken oder Fühlen sich auf sie richtete. Ada musste etwa sieben Jahre alt gewesen sein, als sie begann, sich einer Übung zu unterziehen, bei der sie reglos auf einer Stelle verharrte, in sich hineinhorchte und unter monotoner gedanklicher Wiederholung des Mantras >Ich-bin-jetzt-ich-bin-jetzt< auf die gegenwärtige Sekunde lauerte wie ein Fischer am Wildbach auf den Lachs, den er mit bloßer Hand zu fangen gedachte. Nachdem die Eltern sie mehrmals stumm vor einer Wand kauernd angetroffen hatten, befürchteten sie eine autistische Disposition. Es gelang Ada nicht zu erklären, wonach sie suchte und auf welche Weise. Weil die Eltern ihr verboten, stumm vor der Wand zu kauern, lag sie nachts lange wach und fürchtete sich vor einem Wahnsinn, für den sie keine Worte hatte. Mit den Jahren schliff das Problem sich ab, was nichts anderes bedeutete, als dass Ada es zu ignorieren lernte.
    Jetzt war sie nicht sicher, ob der Anlass für Höfis Ausführungen sich mit dem Inhalt ihrer kindlichen Gegenwartsparanoia deckte. Jedenfalls aber begriff sie besser als jede andere, wovon die Rede war.
    Höfi versuchte gerade, einen fiktiven Rückblick zu inszenieren.
    »Denkt euch einmal aus, wir wären Historiker im Jahr 2020. Im Rückblick beurteilten wir das bundesdeutsche Wahlergebnis von 2002 und untersuchten die Zusammenhänge mit der internationalen Krise rund um Terror und Irak. Na?«
    Schweigen. Höfi wusste, dass sein legendärer Zynismus die Schüler davon abhielt, unbefangene Antworten zu geben. Er wusste auch, dass das Niveau seines Unterrichts die meisten überanstrengte. Er warb um jene, die sich von hohen Ansprüchen herausfordern ließen. Alle anderen konnten sich eine mittelmäßige Note durch konsequente Erledigung der Hausaufgaben verdienen.
    »Joe?«
    Die Angesprochene hob erschrocken die Lockenmähne und raschelte unter der Bank mit einem Magazin, in dem sie heimlich gelesen hatte. Höfi wiederholte die Frage.
    »Im Jahr zwanzig-zwanzig«, versuchte Joe einen Witz, »bin ich Außenministerin und habe für solche Fragen einen Beraterstab.«
    »Liebe Johanna«, sagte Ada in die folgende Stille hinein, »wenn du genauso viele Hirnwindungen hättest wie Locken, bekäme ich seltener Schmerzen im Sehnerv.«
    »Wie bitte?«
    »Vom Augenverdrehen.«
    Draußen bemühte sich jemand um den Motor eines alten Citroen. Das Wimmern des Anlassers wurde bei jedem Versuch kürzer und schwächer.
    »Liebe Ada«, sagte Höfi, »du kannst deinen Sehnerv dazu verwenden, dir ein bisschen die Klassentür anzusehen. Und zwar von außen. Klinke runterdrücken. Alles klar?«
    »Herr Höfling«, sagte Ada, »ich wollte eigentlich etwas anderes sagen. Ich ...«
    »Raus.«
    Der Citroen sprang wider Erwarten doch noch an und entfernte sich. Während Ada aufstand, kam es ihr vor, als hätte sie sich schon vor Minuten erhoben und ihre Äußerungen im Stehen getroffen, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Höfis berüchtigter Strafe. Bevor sie den Raum verließ, nahm sie den Tabak aus der Jacke und schob ihn in die Hosentasche. Leise schloss sie von außen die Tür und hielt mit der Linken die Klinke gedrückt. Höfi würde die Tür die ganze Stunde über aus dem Augenwinkel im Blick behalten. Den einen Fuß gegen die Ferse des anderen gestemmt, streifte Ada beide Turnschuhe ab, schob den einen so dicht vor die Tür, dass er sie vom Aufpendeln abhielt, und knotete den anderen mit den Schnürsenkeln an die Klinke. Vorsichtig ließ sie los. Hielt. Es machte Spaß, auf Strümpfen durchs Schulgebäude zu laufen. Auf dem Weg zur Toilette drehte sie eine

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