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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Karriere von Rausschmissen eine letzte Gelegenheit erhielten, sich zu beruhigen. Ernst-Bloch setzte sie unter pädagogischen Wechselstrom, verband Großzügigkeit mit Despotismus, Zuckerbrot mit Peitsche, und die Mehrheit von ihnen schaffte es letztlich, in einem Zustand gemäßigter Revolte, gemischt mit sporadischer Anpassung, das Abitur zu erwerben. Früher einmal hatte Teuter den Ausspruch geprägt, Ernst-Bloch sei wie ein Vater, der dem abtrünnigen Sohn für seine Rückkehr mehr Liebe und Dankbarkeit entgegenbringt als allen braven und treuen Kindern zusammen, wobei nie klar war, ob er das als Ausdruck einer biblisch-paradoxen Gerechtigkeit guthieß oder sich darüber lustig machen wollte. Jedes Mal auf dem Raucherhof dachte Smutek im Weitergehen darüber nach, ob dieses Mädchen wohl zu den verlorenen Söhnen zähle, ob sie in die zehnte Klasse gehe und ob sie sich nächstes Jahr für Deutsch als erstes Schwerpunktfach entscheiden und damit zu seinen Schützlingen gehören werde.
    Diese Überlegung entsprang reiner Neugier und nicht etwa dem Bedürfnis, einem Menschlein mit grimmiger Miene zu helfen. Smutek hatte den pädagogischen Auftrag, sofern er als Entwicklungshilfe verstanden wurde, immer als grotesken, ja lächerlichen Windmühlenkampf empfunden. Er glaubte nicht daran, einem anderen Menschen beibringen zu können, wie er sein Leben zu führen hatte. Smutek konnte nur da sein. Manchmal zuhören. Alle Kraft in das Aussenden einer stummen Botschaft legen, die davon handelte, dass das Glück des Menschen vor allem in der Abwesenheit von Elend bestand und es darüber hinaus wenig gab, dem man nachjagen konnte. Dass sie sich abregen sollten. Dass der perfide, lautlose Krieg im Frieden einen Normalzustand darstellte, in dem es sich aushalten ließ. Im Grunde wollte Smutek ihnen den kürzesten aller Witze erzählen: Treffen sich zwei Menschen. Sagt der eine: Ich bin glücklich.
    Mehr wollte er nicht.
    Bei diesen Gedanken wurde er meistens unterbrochen, vom Erreichen der Turnhalle, von der Begegnung mit einem Lehrer oder Schüler, von letzten Überlegungen zur bevorstehenden Unterrichtsstunde. Danach vergaß er seine Grübelei. Sie war auch nicht so wichtig.
    Wichtig war die Bundestagswahl im September. Die Schützengräben im Lehrerzimmer vertieften sich, die jüngeren Klassen spielten George Bush und Bin Laden anstelle von Räuber und Gendarm, und auf dem Schulhof stritt die als unpolitisch verschriene Jugend über den Zustand der Welt. Wie Mücken tanzten ihnen die Schlagworte um die Köpfe: >Massen-vernichtungswaffenc, >Welthandel< und >Öl<. Der eine verabscheute den Kampf der Kulturen, der nächste arabische Diktatoren, ein anderer fühlte sich zum ersten Mal im Leben gern als Deutscher, und alle zusammen wollten schulfrei für Demonstrationen.
    Einmal lehnte Smutek sich in der großen Pause in Hörweite der Gruppe an die Wand. Wortführerin war eine Prinzessin mit großer Lockenmähne, die er aus früheren Jahren kannte. Sie hieß Johanna, nannte sich >Joe< und hielt trotz Rehäugigkeit und Gazellenhüften viel auf ihren Intelligenzquotienten. Auf dem Raucherhof rückte sie sich immer so zurecht, dass sie Ada mit dem Rücken verdeckte. Die überwiegend männliche Zuhörerschaft stand schweigend im Kreis, schaute ihr auf Hals und Brustansatz und nickte an den passenden Stellen.
    Die Motivation der Amerikaner sei völlig egal, meinte Joe. Den Frauen und Kindern im Irak müsse geholfen werden, und wer dies unterlasse, sei selbst kriminell. Ein Verbrecher gegen die Menschlichkeit.
    »Johanna!«
    Adas Stimme hatte man selten gehört in diesem Kreis. Als Joe sich umdrehte, stand Ada allein wie eine Angeklagte vor einer Schülergruppe, die sich einen einzigen Gesichtsausdruck teilte: Verwunderung.
    »Nach deiner Ansicht«, sagte Ada zu Joe, »berechtigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer militärischen Intervention?«
    »So ist es, Schätzchen.« Joe lächelte zufrieden, wie ein Jäger, der nach tagelangem Ansitzen das Wild zum ersten Mal vor die Flinte bekommt. Smutek sah ihr an, dass sie schon einige Zeit darauf wartete, der blonden Stoikerin mit der ewigen Zigarette zwischen den Lippen auf freiem Feld zu begegnen.
    »Und weil Deutschland im Irak nicht eingreift«, fragte Ada, »begeht es ein solches Verbrechen?«
    Anscheinend begann Joe zu ahnen, dass sie vorgeführt werden sollte. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und ging auf Ada über, die während des Sprechens unter halb

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