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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sein. Es gibt sie nicht. In der Mathematik nennt man das einen Näherungswert.«
    Unvorbereitet traf ihn ihr Blick. Eine Art Grau, von seltsamer Farbe, die Pupillen klein wie Stecknadelköpfe, obwohl die Sonne nicht schien.
    »Danke.«
    Sie hatte die Stimme einer erwachsenen Frau. Auf dem Weg zur Sporthalle schüttelte Smutek den Kopf über sich selbst. Knecht, dachte er. Lakaien-Natur. Warschauer-Pakt-Pole. Er konnte so viele Sportgruppen gründen, wie es ihm gefiel. Teuter war nicht Saddam Hussein. Wo blieb der Stolz einer jahrhundertealten romantischen Tradition? Was hätten Mickiewicz, Slowacki und Zbigniew Herbert zu seiner Niederlage gesagt?
    Sie hätten gesagt, dass es unhöflich ist, ein junges Mädchen nicht nach seinem Namen zu fragen.
    Smutek wohnt der Vorbereitung eines Ereignisses bei
    S mutek konnte sich weder ihre Unterhosen noch gebrauchte Tampons vorzeigen lassen. Weil es schlichtweg keine Möglichkeit gab, die Regelbeschwerden-Ausrede zu überprüfen, führte er seit Anfang des Schuljahres für alle Mittelstufenmädchen digitale Menstruationskalender, die er von Sportstunde zu Sportstunde ergänzte und in einer unauffällig benannten Datei auf seinem Homecomputer versteckte. Anna: 15.8. bis 20.8. Lola: 25.8. bis? Grit: Siehe Lola. Smutek kam sich wie ein Perverser vor.
    Dabei waren sie nicht einmal faul. Sie kamen aus gutem Hause und waren deshalb nicht übergewichtig. Sie hatten alle das Kinderturnen, Kinderschwimmen und Kindervoltigieren besucht. Aber Bewegung war uncool und litt in einer Zeit, da selbst Kriege am Computermonitor geführt wurden, an Begründungsnotstand. Was sollte es ihnen oder der Welt bringen, wenn sie an Reckstangen hin- und herschwangen oder über ein Seil hüpften? Smutek konnte die Frage nicht beantworten, weil er sie überflüssig fand. Wenn er für Rugby oder Hallenhockey das Feld freigab, gingen Mädchen und Jungen wie Sternenkrieger aufeinander los, während der Rest der Klasse auf den Bänken stand und brüllte.
    Nach zwei Sportstunden, in denen die Schüler mit hängenden Armen, schlackernden Gelenken und schwingendem Fleisch beim Aufwärmlauf um die Halle geschlichen waren, kehrte die mühsam bekämpfte Verzweiflung über das Treffen mit Teuter zurück, als hätte sich ein Meer auf halbem Weg anders entschlossen und die Ebbe abgebrochen, um noch einmal das Land zu überfluten. In der Pause hatte Smutek keinen Aufsichtsdienst, stieg fünf Treppen hoch und stellte sich an ein Fenster im Verwaltungsstockwerk. Hier war es ruhig. Hierher kam er, wenn er das Lehrerzimmer nicht ertrug, in dem die Kollegen in den Ecken saßen, ihre Korrekturen erledigten und versuchten, durch möglichst sparsame Bewegungen ein optisches Nirwana zu erreichen, das sie beinahe unsichtbar machte. Lehrerzimmer hatte es schon gegeben, bevor die Idee des Großraumbüros zum ersten Mal gedacht worden war. Nur hier oben im fünften Stock konnte Smutek in Ruhe darüber nachdenken, warum zum Teufel er Lehrer geworden war.
    Schwacher Essensgeruch zog über den Flur und verhinderte die meditative Versenkung in immer gleiche Gedankengänge. Direkt über Smutek im sechsten Stock befanden sich die Räume des kleinen Internats, das von den Schülern Die Tenne genannt wurde, weil sich dort in kürzester Zeit die Spreu vom Weizen trennte. Mehr aus Verlegenheit denn aufgrund eines pädagogischen oder finanziellen Konzepts hatte man ein paar spartanische Räume eingerichtet, in denen zwanzig Schüler untergebracht werden konnten. Es gab genug Eltern, die nach einer Möglichkeit suchten, ihr Kind auf staatlich anerkannte Weise loszuwerden, und genug Kinder, die kein Klassenziel erreichen und kein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden wollten, solange sie gezwungen waren, bei ihren Eltern zu leben. Zwei ehemalige Schüler von Ernst-Bloch lebten als Erzieher im Schulgebäude und vererbten ihren Job alle paar Jahre an jüngere, nervenstarke Nachfolger.
    Obwohl Smutek kein Liebhaber von Leberkäse und Kartoffelbrei war, konnte er nicht verhindern, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er öffnete das Fenster, um den Essensdunst gegen eine gleichgültige Septemberluft einzutauschen. Wenn er steil nach unten guckte, wurde ihm schwindlig. Fettleibig kauerte der Altbau samt Seitenflügeln auf der dunklen Asphaltfläche und sah aus wie ein Albatros, der sich vor dem Abheben zusammengeduckt hat und dabei eingeschlafen ist. Von hier aus ließ sich der ganze angrenzende Stadtteil überblicken. Zwischen den

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