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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erhalten, und was gerade stattfand, war der so genannte rechte Moment. Frau Smuteks schlechtes Gewissen bildete einen fruchtbaren Boden für den Kuhhandel der Vergebung. Was spielte es letztlich für eine Rolle, was sie getan hatte und was er? Die Schwäche der Menschen war gerichtsbekannt. Zwischen ihnen hatte es immer einen Raum gegeben, in dem sie sich selbst und einander liebten und genauso alles, was sie umgab, die hübsche Wohnung, die Topfpflanzen, ihr Auto, die Katze der Nachbarn, alles, was lebte, und alles, was litt. Einmal hatten sie auf einem Abendspaziergang einen Igel gefunden, der frühzeitig aus dem Winterschlaf erwacht war, ihn mitten in der Nacht zum Tierarzt gefahren und eine Exklusivbehandlung für ihn bezahlt. Sie wiesen sich gegenseitig auf außergewöhnliche Wolkenformationen hin. Sie lasen Bücher. Wo Frau Smutek ihre Hände wegnahm, entstand Kälte. Was sie berührten, begann zu atmen. Das war ein Raum, in den man leichten Herzens eine Beichte sprechen konnte.
    Da war sie wieder, die Versuchung, alles zu gestehen. Frau Smutek saß vor ihm, ausdruckslos wie ein Stück Tonmasse, das auf die Hände des Töpfers wartet, und Smutek brauchte die seinen, um sich mit aller Kraft das Gesicht zu reiben, als könnte er auf diese Weise das dahinter liegende Hirn von falschen Ideen reinigen. Er nahm eine leere Tasse vom Tisch, drückte sie ans Ohr und hörte das Meer darin wie in einer Muschel rauschen.
    »Wenn es etwas zu verzeihen gäbe«, sagte er, »hätte ich dir selbstverständlich verziehen.«
    »Gestern ist Polen der EU beigetreten«, sagte Frau Smutek.
    »Hast du etwas gespürt? Einen Ruck? Ein Ziehen? Nichts dergleichen. Wir sind, was aus diesem verlorenen Land geworden ist. Das ist die einzige Wahrheit.«
    Er umrundete den Tisch und nahm sie in die Arme, wo sie erleichtert zu weinen begann. Er wiegte sie wie eine Tochter, gab Zischlaute von sich und hütete dabei das eigene Geheimnis wie eine verborgene Quelle, die ihn vergiftete und ernährte. Er verspielte die allerletzte Chance, ein weiteres Mal abzuspringen, diesmal freiwillig, aus einem Gefährt, das unzweifelhaft in den Abgrund steuerte, ins Dunkle, ins Nichts.
    Es war drei Uhr morgens, als sie sich vom Tisch erhoben, das Geschirr zusammenräumten, die Reste des abgebrochenen Abendessens mit Messerrücken in die Mülltüte schoben und Gläser in die vorgesehenen Abteile der Spülmaschine stellten. Smutek schlief zwei Stunden, seine Träume wurden mit Abspann gezeigt. Ada stand breitbeinig wie in Reitstiefeln auf dem Dach von Ernst-Bloch und rief ihm etwas zu, das er nicht verstand. Idee und Realisation: Szymon Smutek. Drehbuch: Szymon Smutek. Musik ... Und so fort, bis er das Bett, diese Legebatterie für leere Eier, verließ, am Fenster im Wohnzimmer lehnte und auf das entfernte elektronische Wispern von Klängen lauschte, die aus den Lautsprechern vorbeifahrender Autos drangen. Er konnte nicht mehr ruhig neben seinem Schneewittchen liegen. Seine und ihre Atemgeräusche waren zu Duellanten geworden.
    Smutek fühlte sich wie ein mit bleichen Knochen und einem kleinen Stück ewiger Dunkelheit gestopfter Hautsack.
    Das Nebeneinanderstehen mit anderen Hautsäcken hatte er >Liebe< oder >Hass< getauft, und das fehlende Verständnis für die eigene Existenz nannte er >Seele<. Draußen lag der Mond im Himmel und schien hinter vorbeieilenden Wolken rückwärts zu fahren. Nebenan lag der Mensch, den er geliebt hatte, und fuhr rückwärts hinter Smuteks vorbeieilenden Gedanken. Die Zeitspanne zwischen vier und sieben Uhr morgens verschlief ein gesunder Mensch aus guten Gründen. Diese Stunden verschafften unerwünschte Hellsichtigkeit. Was bei Tag selbstverständlich und unverrückbar erschien, lag plötzlich brach in seiner ganzen Bedeutungslosigkeit. Einst hatte die Frau hinter der Wand ihm Gründe geliefert, morgens aufzustehen, dazu Harmonie mit dem Weltgeist, eine regelmäßige Verdauung, ruhige Akzeptanz gegenüber den zeitraubenden Notwendigkeiten der Existenzsicherung und immer einen Anlass zum Lachen. Zwischen vier und sieben Uhr morgens aber war Glück das Ergebnis einer Absprache, von der Smutek nicht sicher wusste, ob außer ihm noch jemand daran beteiligt war. Er hörte Adas Stimme: Alle Wege führen zur Erkenntnis der Nichtigkeit aller Dinge, aber keiner führt zurück.
    Endlich klingelte der Wecker im Nebenzimmer. Smutek brachte das Bettzeug zurück ins Schlafzimmer und küsste seiner Frau einen guten Morgen mitten ins Gesicht. Als

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