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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schließen, seinen Kopf bald aufwärts, bald abwärts zu betten, ihm rhythmisch die Brust zu drücken, vielleicht sogar Luft in seine Nase zu blasen. Erst das Herannahen der Rettungssirene macht den Vorfall zu einem technischen Problem. Es gilt, eine Bahre auszuladen, den womöglich schwer Verletzten hinaufzuheben, Spritzen aufzuziehen, Ventile zu öffnen, Schläuche anzuschließen. Mit schnellen Stichen vernäht das kreisende Blaulicht ein Loch in der Ordnung, aufgerissen durch das außerplanmäßige Versterben eines Artgenossen, ein Loch, über das die aufgelaufene Menschenmenge sich beugt, um einen entsetzten Blick in das darunter liegende Chaos zu werfen. Die Heckklappe des Rettungswagens schlägt zu. Wieder ein Problem, das sich am saubersten lösen lässt, indem man es vergisst. Der Tag ruckt und stöhnt und setzt sich von neuem in Bewegung. Fünfzig verstörte Passanten stellen sich ein Unfallopfer als überlebend vor: Ob es dadurch von den Toten aufersteht? Ich will die Antwort, egal wie sie lautet, nicht hören.«
    Und so ging es weiter. Es war ein ganz normaler Tag im Monat Mai, genauer gesagt: Der 6. Mai 2004, bis die Arbeit mit den Sätzen schloss: »Was soll ich vor der Tür? Man kann tun, was man will, es kommt in diesem Gefilz von Kräften, wie es draußen herrscht, nicht im Geringsten darauf an.«
    Das Mädchen verstummte und sah ruhig vor sich hin, mit einem Blick, als befände sich außer ihr kein Mensch im Raum. Smutek blätterte hektisch in den ersten zehn Seiten seiner Romanausgabe und suchte das Material, aus dem diese Sätze geformt waren, fand die Inhalte an verstreuten Stellen, nicht aber ihren Klang. Als er aufschaute wie ein Ertrinkender, der den Kopf über die Wasseroberfläche reißt, sah er direkt in Adas Gesicht, in dem sich sein eigenes Erstaunen spiegelte. Ein paar Sekunden lang hielten sie sich mit Blicken aneinander fest, einander stumm versichernd, dass es sich bloß um eine gut gelöste Hausaufgabe gehandelt hatte und nicht um eine Stimme aus dem Off. Es war einfach ein merkwürdiger Donnerstag.
    »Das war sehr gut«, sagte Smutek endlich. »Mir scheint, Sie haben besonderes Talent.«
    Am Ende der Doppelstunde entlud die Spannung sich in einem Zustand überflüssiger Verwirrung. Der Schatten von etwas Großem war über die Wände gezogen, eine jener Erscheinungen, die in Märchen als Drachen und nächtliche Reiter dargestellt werden und doch nicht mehr sind als eine Rangierbewegung von Zeit und Raum, so dass die Menschen sich an nie Gewesenes erinnern oder glauben, ein Ereignis vorhergesehen zu haben. Gelegentlich kommt es zum einen oder anderen Schicksalsschlag, wie zu einer Fehlzündung. Diesmal aber sprang nichts aus der Spur. Das schwerfällige Fahrzeug hatte bloß ein wenig gestockt und setzte seinen Weg fort.
    Man ließ sich Zeit beim Einpacken der Taschen. Smutek wartete auf die unscheinbare Autorin. Ada wartete auf Smutek, während Alev ihr Zeichen gab, dass sie ihm ins Internat folgen sollte. Die üblichen Vorbesprechungen am Donnerstag fanden für gewöhnlich nicht in der Pause, sondern nach Schulschluss statt, so dass Toni nach dem Mittagessen im Speisesaal gar nicht erst auf das gemeinsame Zimmer zurückkehrte. Ada hatte eine Verabredung mit Teuter, schüttelte langsam den Kopf und bemerkte im gleichen Moment Olaf, der im Gang gegenüber der offenen Klassentür an der Wand lehnte. Eine Prinzessin geriet dazwischen, sprach Smutek aus nichtigem Anlass an, hatte die obersten Knöpfe der Bluse geöffnet und beugte sich weit über das Lehrerpult, damit er ihr in den Ausschnitt sehen konnte.
    Inzwischen entwischte die unscheinbare Schülerin, und Ada ließ sich von Olaf abfangen, um Alev zu entgehen, der auf keinen Fall von dem Treffen mit Teuter erfahren durfte.
    »Nice to meet you«, sagte Olaf, als sie ihm regelrecht in die Arme rannte.
    »Ganz meinerseits«, erwiderte sie und schaute Alevs Rücken hinterher, der betont entspannt den Gang hinunter entschwand. Als er um die Ecke gebogen war, wollte sie weiter, aber Olaf fasste sie am Arm.
    »Ganz ruhig. Lassen wir die Hysterie für einen Moment beiseite.«
    Sie musste an sich halten, um ihm nicht die Spitze ihres Turnschuhs ins Schienbein zu rammen. Man mochte ihr manches nachsagen, aber sicher nicht Hysterie. Sie war stolz auf den Schwarzen Gürtel der Indifferenz. Außerdem konnte sie es nicht leiden, festgehalten zu werden.
    »Ich hab keine Zeit.«
    »Versteht sich von selbst«, nickte Olaf. »Immer in wichtigen

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