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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sie mit Zahnbürsten im Mund nebeneinander vor dem Badezimmerspiegel standen, war die Front des Alltäglichen lückenlos geschlossen. Es war Montagmorgen. Erfolglos drängte Smutek einen Gedanken beiseite, der sich hinter seiner Stirn wiederholte: Ab jetzt, erst ab jetzt würde alles wirklich anders werden. Beim Mundausspülen stießen er und das Schneewittchen mit den Köpfen zusammen.
    Ein merkwürdiger Donnerstag. Spannung wird aufgebaut und wenig geschieht. Ein Geldkurier erreicht das Ziel
    E s war ihnen allen nicht ganz wohl an diesem Morgen.
    Obwohl der Tag keine Hinweise auf irgendetwas Ungewöhnliches enthielt, glaubte doch jeder, es sei etwas im Gange. Vielleicht eine Änderung des Luftdrucks. Vielleicht die Vorbereitung einer Kurskorrektur der partiellen Menschheitsgeschichte. Der Mensch ist taub und blind gegen die Welt, aber er spürt es wie Rheuma, wenn ihn etwas am Schicksal reißt.
    Schon vor Schulbeginn strengte die Sonne sich bei ihren Aufwärmübungen an. Über den Köpfen der Menschen wippten weiße Blüten vor blauem Hintergrund wie in einer öffentlichrechtlichen Sendepause. Die Parklücke, in der Smutek seit Jahren seinen Wagen abstellte, war besetzt. Ein Zeichen? Kopfschüttelnd schloss er die Fahrertür ab und hielt das Gesicht für einen Moment in die Sonne. Er war übermüdet und überreizt und befand sich in der angenehmen Lage, sich selbst nicht trauen zu müssen. Am liebsten hätte er eine Napalmbombe in das angrenzende Gebüsch geworfen, um das apokalyptische Kreischen der Spatzen für immer zum Schweigen zu bringen.
    Außer Alevs war auch Odettas Platz unbesetzt, und das fiel auf, als wären jene beiden speziellen Stühle durch mehrere Meter unsichtbarer Drähte miteinander verbunden. Ada hatte die Füße hochgezogen, die Knie mit den Armen umschlungen und signalisierte Smutek durch einen warnenden Blick, dass sie diese Haltung nicht ändern würde, gleichgültig, was er dagegen unternehmen mochte. Der Tag war eben erst angebrochen und hatte sich schon disqualifiziert. Auch Ada war müde und überreizt. Seit zu Hause die Vorbereitungen zur strafrechtlichen Verfolgung eines ehemaligen Familienmitglieds liefen, bot die abgeschlossene Badezimmertür keinen ausreichenden Schutz mehr. Manchmal fühlte sie sich wie auf vermintem Territorium, das schleunigst verlassen werden musste, ohne dass man dabei einen Fuß vor den anderen setzen durfte. In der rechten Hosentasche trug sie heute eine Geldscheinrolle, dick wie ein Phallus, die sie am Vortag aus dem verabredeten Versteck im Papierkorb nahe der Sportbahn gezogen hatte.
    Mit einer halben Stunde Verspätung betrat Alev den Raum, begrüßte die Klasse als seinen Fanclub, Ortsverband Godesberg, nickte Ada zu, die unbeweglich zu ihm hinübersah, und zog sich wie eine Schnecke in sich selbst zurück, mit verschränkten Armen, die Augen starr auf die Tischkante gerichtet. Odetta kam zwei Minuten später, murmelte eine Entschuldigung und huschte blass auf ihren Platz. Jemand pfiff durch die Zähne, die Klasse lachte, Alev veränderte seine Haltung nicht. Smutek verzeichnete zwei sinnlose Einträge ins Klassenbuch.
    Er hatte den Schülern eine Woche zur Bearbeitung einer Hausaufgabe eingeräumt. Sie sollten ein Kapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften nacherzählen. Dass Ada ihre Sache mit Sorgfalt erledigt hatte, war ebenso klar wie Alevs absolute Untätigkeit. Smutek hatte keine Lust, mit einem von beiden zu reden. Er nahm ein Mädchen dran, das für gewöhnlich wenig auffiel. Sie hatte braune Haare und blaue Augen und zog ihre exzellenten schriftlichen Noten durch mangelhafte mündliche Mitarbeit in den Keller. Als Smutek sie bat, ihren Text vorzulesen, legte sie zwei von einer winzigen Handschrift bedeckte Seiten Papier zu einem exakten Rechteck zusammen.
    »Jeden Moment kann etwas aus der Spur springen, plötzlich quer schlagen, seitwärts rutschen, die Fahrtrichtung verlassen, sich drehen. Ein schwerer, abrupt gebremster Lastwagen zum Beispiel, der dann mit schrägem Leib zum Stehen kommt, ein Rad auf dem Bordstein, dicht vor einer Laterne, als wollte er das Hinterbein daran heben, während sich vor seiner Schnauze eine dunkle Wolke Fußgänger wie Fliegen versammelt, um zu betrachten, was da reglos und unförmig auf dem Asphalt liegt. Ein Haufen alter Mäntel vielleicht, die nicht mehr in den Altkleidercontainer gepasst haben? Auch ohne genaues Hinsehen weiß man es besser. Man beginnt, dem Reglosen die Jacke zu öffnen und wieder zu

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