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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sie.
    »Eins will ich wirklich wissen.« Smuteks Hand lag leer auf dem Tisch, und als sie einer aufgestellten Mausefalle zu ähneln begann, zog er sie zurück. »Als du auf dem Rand meiner Asylantenpritsche saßest und General Jaruzelski, deine Eltern und die Volksrepublik Polen mit gotteslästerlichen Flüchen belegtest - wusstest du da, dass dein Vater noch am Leben war?«
    Unvermittelt traf ihn der altbekannte Hass aus schwarzen Augen, als wären zwei Rollos hochgegangen vor einer Lichtquelle, von der Smutek geglaubt hatte, dass sie längst verloschen sei.
    »Man hat uns unentwegt belogen«, rief Frau Smutek. »Hat deine Mutter etwa nicht an den Tod ihres Sohnes geglaubt? Muss sie andere Gründe für ihren Sprung in die Weichsel gehabt haben, nur weil dieses Land mit allen Fundamenten auf einer Lüge errichtet war? Bist du schuldig, Smutek? Oder ist es General Jaruzelski? Die Verhältnisse? Vielleicht deine Mutter, das Schicksal oder Gott?«
    Darüber wollte Smutek nicht sprechen. Ihm fiel nur eine lächerliche Phrase ein, die ihm der Widerwillen diktierte:
    »Lass die Toten ruhen.«
    »Keine Sorge, ich werde deine Vergangenheit nicht durcheinander bringen. Hat nicht jeder ein Recht zu glauben, was ihm gut bekommt? Ist man denn, wenn man belogen wird, trotzdem zur Kenntnis der Wahrheit verpflichtet? Kann es das sein«, jetzt schrie sie beinahe, »was von einem Menschen verlangt wird? Dass er immer und trotz allem Bescheid weiß?«
    Darauf kannte keiner von ihnen eine Antwort, die Frage war ausgesprochen kompliziert. Sie schwiegen lange Zeit, den Blick auf die halb gefüllten, erkalteten Teller gerichtet, und während sie inmitten dieser fatalen Stille saßen, machte ein großes Erstaunen sich breit.
    »Ist es nicht merkwürdig«, sagte Smutek, »wie sehr sich gleicht, was mit uns geschehen ist? Als hätte jeder für sich an einer anderen Aufführung desselben Theaterstücks mitgewirkt.« Er hatte etwas Großartiges sagen wollen, nun aber klang es matt und schal. »Man spürt förmlich, wie sich in uns das ewig Gleiche wiederholt. Das verbindet uns auf besondere Art.«
    Sie wich seinem Blick aus, der Hilfe suchte.
    »Seit wann interessierst du dich für Nietzsche? Wir sind einfach Kinder desselben Systems. Für uns gilt der Merksatz: Indem man die Menschen belügt, macht man sie zu Verbrechern.«
    Das stimmte wahrscheinlich. Mit aller Sorgfalt griff Smutek wieder nach der Hand seiner Frau, die sie ihm diesmal widerstandslos überließ, und betrachtete sie eingehend wie einen interessanten Gegenstand.
    »Hast du zugehört?«, fragte sie. »Das gilt auch für dich. Einmal Verbrecher, immer Verbrecher. Das wirst du Zeit deines Lebens nicht mehr los.«
    Smutek hörte es und beschloss trotzdem, diese Sätze nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Frau dachte politisch, auch wenn das in letzter Zeit in Vergessenheit geraten war. Politisch-Sein bedeutete, dass es nichts gab, wofür das System nicht verantwortlich war. Er mochte sie dafür und hatte keinesfalls vor, dem Allgemeinen einen Stein an die Füße zu binden, um es in den Teich des Persönlichen zu werfen. Er war durchaus in der Lage, abstrakt zu denken, vorausgesetzt, es diente einem guten Zweck.
    »Was du sagst«, behauptete er, »gilt heute mehr denn je. Die Wahrheit, oder besser, die Abwesenheit von Lüge, ist der letzte Wert, dem wir ins Titelblatt unseres Lebens eine Widmung schreiben können. Daneben gibt es noch anderthalb Gebote von ehemals zehn. Erstens: Du sollst keinem anderen Menschen auf die Nerven fallen. Und das halbe: Du sollst nicht töten, wenn es sich vermeiden lässt. Wenn jeder diese anderthalb Gebote befolgte und sich dabei an die Wahrheit hielte, wäre die Welt längst ein Paradies.«
    »Und verschweigen«, sagte sie mit schwer zu deutender Anzüglichkeit, »ist wie lügen?«
    Er schüttelte den Kopf, langsam, damit die Gedanken nicht in Unordnung gerieten, in gespielter Nachdenklichkeit, weil es schnell zu überlegen galt, ob sie mit dieser Äußerung etwas Bestimmtes bezweckte, »Jeder hat Gründe und ein Recht zu schweigen. Aber wenn man schon spricht, kann man versuchen, bei der Wahrheit zu bleiben, nicht wahr?«
    »Du redest, als hättest du mir verziehen.«
    »Verziehen?«
    Diese Option im menschlichen Miteinander war Smutek entfallen. Jetzt musste er lachen, ein wenig müde, wie über die zu lang hinausgezögerte Pointe eines dramaturgisch schlecht aufgebauten Witzes. Natürlich, man konnte alles erzählen, um Verzeihung bitten und sie

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