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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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altes Leben schleunigst abzulegen, so wie man sich beeilt, eine dicke Jacke loszuwerden, nachdem man ins Wasser gefallen ist. Wie aber sollte er sich von einer Sache befreien, an die er sich kaum erinnern konnte? Gehörte die Laufgruppe zu einem alten, einem neuen oder zu gar keinem Leben? Hatte er im alten Leben seine Arbeit geliebt? An Gott geglaubt? Ein Ziel gehabt? Ein Kind gewollt? Es gab nur ein Ding, das ihm mit Sicherheit angehört hatte, das war seine Frau, und er würde niemandem, schon gar nicht Ada, erlauben, ihm zu raten, dass er sich von ihr befreite. Noch ehe er sich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte, begannen Lippen und Zunge einen stammelnden Stepptanz aufzuführen, angetrieben vom Druck all der Worte, die er ihr wahrscheinlich schon immer einmal hatte sagen wollen.
    »Geht es wieder um das ewige Thema? Um die Überlegenheit einer Post-Aufgeklärten gegenüber dem altmodischen Idealisten? Willst du wissen, worin deine Verblendung liegt? Du meinst, der horror vacui sei deine persönliche Erfindung. Was dir so endgültig erscheint wie ein Knick in der Geistesgeschichte, hat jeder kluge Mensch durchlitten. Es handelt sich um einen Ausgangspunkt, nicht um den Endpunkt des Denkens.«
    »Hör mal ...«
    »Lass mich ausreden!!« Die Nymphe Echo antwortete von den Kachelwänden, zur ewigen Wiederholung verdammt. Ada schwieg mit einem spöttischen Lächeln und ließ Smutek fortfahren.
    »Auch ich denke oft genug: Was soll ich mit dem Wind, wenn ich kein Segelboot habe? Was mit der Sonne, wenn ich keine Solarzelle bin? Ich sehe nach oben: nichts als Sterne, Urknallschutt, ein Großteil schon lange tot, übrig gebliebenes Licht auf einer sinnlosen Reise durch den sinnlosen Raum. Und neben mir, zum Beispiel: du. Manchmal, wenn ich dich ansehe, wundere ich mich von Herzen darüber, dass du nicht nur eine Erinnerung bist. Du kannst doch nicht wirklich eine Gegenwart besitzen, du kannst doch nicht wirklich - immer noch hier sein?«
    Er stoppte sich selbst, wie man ein flüchtendes Kind kurz vor der Hauptverkehrskreuzung stoppt, atemlos, mit beiden Armen nach dem nächstbesten Haltepunkt grapschend.
    »Süß, Smutek«, sagte Ada, nachdem das Schweigen effektvoll genug geworden war. »Dein Eifer widerlegt dich. Eigentlich hatte ich fest damit gerechnet, dass du von den sinnstiftenden Leiden deiner Frau zu reden anfängst. Aber ich habe auch nichts gegen Segelboote und Sonne. Nichts gegen Juliusz Slowacki. Aber die Dinge, vor denen ich dich warnen wollte, lassen sich nicht mit ein bisschen Pubertätslyrik beiseite reden.«
    Endlich stützte Smutek beide Hände auf die Waschbeckenkante, streckte den Rücken und entlastete die Wirbelsäule. Er stellte sich vor, wie Adas Blick weiter in der Luft hing, genau dort, wo sich eben noch sein Gesicht befunden hatte, eine Achse, die ihren zweiten Endpunkt verloren hat.
    »Wenn ich dich fragen würde, ob du meine Freundin oder Feindin bist, würdest du lachen, nicht wahr?«
    »Ich würde lauthals lachen und mich hier vor deinen Füßen auf dem Boden hin- und herrollen.« Weil er nicht antwortete und sichtbar zu ventilieren begann, setzte sie flüsternd hinzu: »Ganz ruhig, Smutek. Das ist eine Lebendimpfung. Gut für das Immunsystem. Wirkt gegen bevorstehende Schicksalsschläge.«
    Er hatte nicht zugehört.
    »Dein Problem«, brüllte er, die Hände immer noch auf das Porzellan gestützt, das warm zu werden begann und rings um seine Finger beschlug, »ist, dass du das allgemeine nichts mit deiner persönlichen leere verwechselst.«
    Das war ein Übergriff. Sie war nicht seine Tochter, sie hatte sogar aufgehört, seine Schülerin zu sein. Außerdem war sie erst fünfzehn. Ein Kind. Er durfte sie nicht anschreien, nicht beleidigen, schon gar nicht verletzen. Der blasse Untertassenvollmond ihres Gesichts war aus dem Spiegel verschwunden, noch ehe seine Augen die ihren suchten, um Vergebung zu erbitten oder zu gewähren, um eine Brücke zu schlagen über den Strom aus Worten, der sie seit ihrer ersten Begegnung voneinander trennte.
    »Ada, Ada.«
    Er flüsterte diesen Namen wie ein Ehemann, der zu weit gegangen ist und schon in der nächsten Sekunde bereut. Sie ging, auf roten Turnschuhen, unter ihrer komischen Hochfrisur aus viel zu kurzen blonden Strähnen. Nie zuvor waren ihr blasierter, amtsmüder Geist und die empörende Kindlichkeit so heftig aufeinander geprallt. Kein Lehrer, kein Liebhaber und kein Erpressungsopfer verstellten Smutek den Blick. Er sah eine kleine, vom

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