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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Leben zum Tode verurteilte Frau, eine Fünfzehnjährige mit greisem Verstand. Er flüsterte noch vor sich hin, als sie die Turnhalle längst verlassen hatte: Vielleicht braucht sie Hilfe, mein Gott, sie braucht Hilfe - und wusste dabei, dass dem nicht so war.
    Er saß noch immer vor dem Schreibtisch und hatte eine Hand auf den Bücherstapel gelegt, als könnte er auf diese Weise erfühlen, was dem Verstand nicht zugänglich war. Er hatte die letzten Wurzeln, die ihn mit dem Boden verbanden, noch nicht gekappt. Erst wenn diese durchschnitten waren, würde er sich in etwas verwandeln, das man aufstellen, zerlegen und wieder aufstellen konnte. Erst dann könnte er Ada in die Augen sehen, ohne zu kämpfen.
    Frau Smutek packt aus
    A m darauf folgenden Abend kehrte das Schneewittchen aus der Eifel zurück. Sie hatte zwei Tage auf langen Spaziergängen im Wald mit ausgiebigen Gesprächen verbracht. Auf jeden ihrer Schritte waren drei Wörter gefallen, die Arbeitskollegin hatte geduldig zugehört. Eine Weile werkelte sie durch die sonntägliche Wohnung, dann rief sie Smutek zu sich in die Küche. Zwei Teller standen auf dem Tisch, in der Mikrowelle drehten sich Plastikschalen mit Fleisch und Beilagen. Smutek warf sich auf einen Stuhl, dass das Holz ächzte.
    »Weißt du, was Fliegende Bauten sind?«
    »Keine Ahnung.«
    »Das beruhigt mich.« Es gab doch eigentlich nichts, um das man sich sorgen musste. »Chodz do mnie na chwil^.« Er küsste ihr blasses Gesicht, und als er damit fertig war, war die Tür der Mikrowelle längst aufgesprungen, und der Geruch von Bratensoße und Kartoffeln hatte sich in der Küche verbreitet.
    Schließlich sagte sie es einfach. Sie hatten über etwas völlig anderes gesprochen, wahrscheinlich über Literatur, vielleicht hatte Smutek erklärt, was Fliegende Bauten seien, während die Gabeln hoch und runter gingen und die Messer vor und zurück. Es stieß ihr auf wie eine Luftblase aus einem übersäuerten Magen. Sie selbst schien sich am meisten zu wundern über ihre Worte, die eine Antwort darstellten, ohne dass eine Frage vorausgegangen wäre: »Es kam alles daher, dass ich wenige Tage vorher die Nachricht vom Tod meines Vaters erhalten hatte.«
    Nach diesem Satz hob sie das Gesicht und schaute ihn staunend an. Mit unruhigen Augen irrte Smutek zwischen Zeiten und Ereignissen umher und suchte den Gegenstand, auf den sie sich bezog. Ihr Mund zerschmolz in einem Lächeln.
    »Dein Vater«, sagte er vorsichtig, »ist vor über zwanzig Jahren in einem polnischen Gefängnis erfroren.«
    »Er ist letzten Herbst am Alter gestorben, vielleicht am Kummer. Anscheinend war er auch krank. Nur ein bisschen. Nicht viel kränker als wir alle.«
    Smutek vermutete einen Rückfall, eine geistige Verwirrung, etwas, mit dem man vorsichtig umgehen musste, um nichts zu zerbrechen. Er streckte eine Hand aus, die ebenso sanft war wie seine Worte: »Wovon sprichst du überhaupt?«
    »Die Nachricht kam mit der Post. Sie wussten die ganze Zeit, wo ich bin und was ich mache, verstehst du? Sie haben Erkundigungen eingeholt, Nachforschungen angestellt. Es war dumm von mir, nicht zu erkennen, wie einfach so etwas ist.«
    »Vor oder nach der Wende?«
    »Woher soll ich das wissen? Jedenfalls haben sie mich ohne weiteres gefunden. Dein Nachname hat mich überhaupt nicht beschützt.«
    Egal, was passiert war - sicher war Smutek an allem schuld, aber daran hatte er sich gewöhnt und achtete kaum noch darauf. Damals nach der Wende hatte sie auf eine Heirat gedrungen, obwohl sie weder schwanger noch besonders katholisch war. Sie wolle ihn nicht der Gefahr einer Abschiebung aussetzen, hatte sie gesagt, und als Smutek einwandte, aus so profanen Gründen nicht heiraten zu wollen, war sie dazu übergegangen, ihm pathologische Ehescheu vorzuwerfen. Frau Smutek war kein polnisches Mädchen, das mit Ende zwanzig einen Mann zu erwerben versucht wie mit achtzehn das Abitur. Weil ihm kein besserer Grund in den Sinn gekommen war, hatte Smutek angenommen, dass sie ihn liebe. Jetzt saß sie vor ihm und schaute zu Boden wie ein Schulmädchen, das sein Klassenziel nicht erreicht hat.
    »Stell dir das vor. Meine eigene Familie hat niemals versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen. Bis nach zwei Jahrzehnten eine Benachrichtigung vom Ableben meines toten Vaters eintrifft.«
    »Hast du damals nicht von deiner Mutter verlangt, sie solle sich ab sofort als kinderlos betrachten? Sagtest du nicht zu ihr: Deine Tochter ist jetzt eine Waise?« Darauf schwieg

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