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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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versauen. Und darin erschöpft sich das ganze Geheimnis unserer Beziehung.«
    Wer Alev kannte, brauchte nur einen kurzen Blick in sein Gesicht zu werfen, um zu wissen, dass dieser prätentiöse Phlegmatiker eine Herausforderung darstellte. Flüchtig wie eine Sternschnuppe zuckte die Frage durch Adas Kopf, ob sie bei einer geringfügigen zeitlichen Verschiebung sämtlicher Umstände am Nachmittag Hauser anstelle von Smutek hätte treffen müssen. Eine Welle von Sympathie für Smutek, dessen Kurznachricht sie nicht beantwortet hatte, schlug hoch und verebbte.
    Die Attacke war nicht vorbereitet, sie entsprang allein Alevs Energiefeld, das ihn an diesem Tag umgab wie Elektronen ein massestarkes Atom. Alevium. Halbwertszeit unbekannt. Sie hatten ihre Namensschildchen beschriftet und an die Tischkanten gestellt, Hauser machte Anstalten, den Dienst nach Vorschrift aufzunehmen, als Alev, der sich sonst niemals meldete, sondern darauf wartete, dass er gefragt würde, den Finger hob. In der Klasse verstummte alles Rascheln, Scharren, Atmen und Flüstern, das die Anwesenheit von Menschen zu begleiten pflegt.
    »Herr El Qamar?«
    »Bevor wir uns in historischen Details verlieren, würde ich gern eine grundsätzliche Frage stellen.«
    »Ich hatte nicht vor, mich zu verlieren, aber versuchen Sie es ruhig mit Ihrem Anliegen.«
    »Seit ich Augen habe zum Zeitungslesen und Ohren zum Verfolgen politischer Debatten, frage ich mich, warum täglich Millionen von Kilojoule an Hirnenergie auf Analyse und Bewertung des Weltgeschehens verschwendet werden, wenn sich doch jedes beliebige Ereignis auf unserem Planeten durch die heilige Dreifaltigkeit des höchsten Menschheitsgesetzes erklären lässt. Was man alles beheizen könnte mit dieser Energie, wenn man ...«
    Irgendein Mädchen kicherte, zum Zeichen, dass Alevs Fanclub geschlossen hinter ihm stand.
    »Fassen Sie sich kurz«, sagte Hauser, der Alev mit dem ausdruckslosen Blick eines Zootiers betrachtete. »Was für eine Dreifaltigkeit?«
    »Feigheit, Dummheit, Eigennutz«, sagte Alev. »Die Achsen des dreidimensionalen Koordinatensystems allen Verhaltens.«
    »Vielleicht«, antwortete Hauser, »sollten Sie insoweit nicht von sich auf andere schließen.«
    Ein Raunen war durch die Klasse gegangen. Alevs Augen leuchteten ein weiteres Mal fiebrig auf, während er die Szene nacherzählte, dabei eine auf die Gabel gespießte Kartoffel in der Luft schwenkte und beim Lachen den halbzerkauten Inhalt seines Mundes sehen ließ.
    »Ganz falsch, Herr Hauser«, hatte er gerufen, »ganz falsch. Natürlich soll man von sich auf andere schließen, das ist der erste und einzig mögliche Schritt zur Erkenntnis. Oder glauben Sie an Objektivität?«
    »Fassen Sie sich kurz«, hatte Hauser erwidert. »Ich möchte den Unterricht aufnehmen.«
    »Sie können den Unterricht nicht aufnehmen.« Das war Ada, von der anderen Seite des Raums. Träge drehte Hauser sich um, verblüfft wie ein Dickhäuter, dem von hinten ein zweiter Lanzenstich beigebracht wurde. »Nicht bevor Sie nicht verstanden haben, worum es sich handelt.«
    Alev Alphatier, zu hundert Prozent in seinem Element, hatte einen schmachtenden Blick zu ihr hinübergesandt, den er jetzt, im Zuge der Nacherzählung, durch ein kräftiges Kneten ihres Nackens ersetzte, wobei er sich halb vom Sitz erhob. Ein Teil der am langen Tisch versammelten Internatsbewohner lauschte ihm amüsiert, während die anderen mit feindselig gekrümmten Rücken über ihren Fischtellern hingen.
    »Und dieses märchenhafte Mädchen«, sagte er zu allen Augenpaaren, die ihn betrachteten, »dieses Monster in Menschengestalt hat dem Jungen einfach die Füße weggetreten. Verbal, versteht sich.«
    »Sie brauchen ein Beispiel«, hatte sie zu Hauser gesagt, »um zu verstehen, warum wir im Angesicht einfacher Erklärungsmöglichkeiten keinen szientistischen GeschichtsSchnickschnack mitmachen werden. Ihrem Vorgänger ist der Fehler unterlaufen, uns das Denken beizubringen.«
    Hauser, der nicht sicher war, welche Art Spiel mit ihm getrieben wurde, hatte eine abwartende Haltung eingenommen. Olaf, kaum zwei Meter von Ada entfernt, machte eine Bewegung, als wollte er ein unsichtbares Marmeladenglas mit flacher Hand verschließen und schütteln. Time out!, flüsterten seine Lippen.
    »Seit fast zwei Jahren überlegt die Welt, ob es im Irak Massenvernichtungswaffen gegeben habe. Die einfache Antwort lautet: Gäbe es sie tatsächlich, hätten die Amerikaner mit ihrer Zinksarg-Phobie dieses Land

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