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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erreicht. Die Mutter hatte vom Fenster aus die Straße im Blick behalten und wartete fromm wie Hiob am Treppenabsatz vor der Wohnungstür. Um ihre rechte Hand krümmte sich das Faxpapier, verzweifelt bemüht, in seine aufgerollte Form zurückzugelangen. Ada benutzte die dreißig Stufen, um den Kopf zu leeren und die verstreuten Gedankentruppen in die kleine befestigte Bastion ihres Persönlichkeitskerns zurückzuziehen: Ada ist eigenschaftslos und unangreifbar. Sie ist die Umsetzung eines vor hundert Jahren angekündigten Prototyps, einstweilen mehr für die Präsentation seiner Funktionen als für den tatsächlichen Einsatz gedacht. - Stufe für Stufe stieg sie aus dem Alltagsmenschen heraus und war, als sie den Treppenabsatz erreichte, die Ruhe selbst.
    So ein Verbrecher. Nichts ist ihm heilig. Er würde sein eigenes Kind den Wölfen vorwerfen. Wenn er eins hätte, nicht? Komm rein.
    Schnell fraßen Adas Augen sich durch die wenigen Zeilen, schnell arbeitete das Gehirn. Es gab nicht viele Erklärungsmöglichkeiten für den Brief des Brigadegenerals, der seiner Anrede nach an die Mutter, indirekt aber ebenso sehr an sie selbst gerichtet war. Vielleicht pokerte er. Wahrscheinlicher war, dass Teuter ihn angerufen hatte, gleich nach ihrem Zusammentreffen in Gründers Büro. Mühelos konnte Ada sich vorstellen, wie die Kermetstimme im Hörer geklungen hatte. Zur Verunstaltung durch einen angehobenen Kehlkopf und überspannte Stimmlippenränder kamen die technischen Entstellungseffekte, so dass Teuter wie ein Erpresser gequakt haben musste, der mit seinen Opfern durch einen Stimmverzerrer spricht. Ja nee, eben war Ihre Stieftochter bei mir. Sie hat eine beträchtliche Summe Bargeld auf den Tisch gelegt. Wissen Sie davon?
    Der Brigadegeneral hatte es gewusst. Er wusste es nicht nur, es war ihm unangenehm. Teuter als Schulleiter trug die Verantwortung und fühlte sich persönlich in jedes einzelne Schicksal involviert. Ja nee, ob er sicher sein könne, dass es mit solchen Barschaften in den Händen eines Kindes seine Ordnung habe?
    Je genauer der Brigadegeneral darüber nachgedacht hatte, desto deutlicher war ihm geworden, dass dieses Geld von ihm selber stammte. Eine solche Notlüge war er der Stieftochter schuldig. Sofern Teuter sich darüber im Klaren sei, dass er hiermit bezüglich einer innerfamiliären Angelegenheit in strengstes Vertrauen gezogen werde, könne er andeuten, dass die ursprünglich fehlende Summe nicht etwa durch eine Verletzung der Unterhaltspflicht, sondern durch die verzeihliche Dummheit eines jungen Mädchens entstanden sei, die einem engen Freund habe helfen wollen. Die Konsequenzen aus diesem Verhalten seien verwickelt, nun aber weitgehend bereinigt.
    Ohne Zögern zeigte Teuter Verständnis und sicherte höchste Geheimhaltungsstufe zu. Ob der Brigadegeneral vielleicht den Namen des besagten Freundes kenne?
    Nein, kenne er nicht, und selbst wenn, würde er die Sache hiermit als erledigt betrachten.
    Gewiss.
    Vergeblich glättete Ada das Fax mit den Händen, es schnappte sofort in seine Ringelform zurück. Die nervösen Blicke der Mutter fühlte sie wie eine krabbelnde Insektenfamilie auf dem Gesicht, mit den Handrücken rieb sie sich Stirn und Wangen. Dann ging sie zum Telefonieren auf den Balkon, schloss die Tür hinter sich und behielt die Mutter, die am Esstisch saß und die Erregung durch kontrolliertes Atmen bekämpfte, durch die Scheibe im Auge. Der Brigadegeneral war sofort am Apparat.
    »Kleines! Gut dich zu hören.«
    »Willst du spielen?«
    »Kannst du nicht lauter sprechen? Ich verstehe dich kaum.«
    »Nein, kann ich nicht. Sie sitzt am Tisch, flattert mit den Nerven und spitzt die Ohren. Wie du sie zurichtest! Sie ist wie eine junge Robbe, mit der ein Hai grausam spielt, um seinem Kind das Jagen beizubringen.«
    »Den Film habe ich auch gesehen«, sagte der Brigadegeneral. »Phantastische Aufnahmen. Ich weiß, dass sie leidet. Wir leiden alle drei.«
    »Ich leide nicht.«
    »Möglicherweise bemerkst du es nicht.«
    »Leid, das man nicht bemerkt, ist keins.«
    »Mag sein. Jedenfalls ist das Krieg. Glaub mir, damit kenne ich mich aus. Und du wirst die Nerven nicht verlieren, hab ich recht?«
    »Komm zur Sache.« »So ist es gut. Wie findest du meine Lösung?«
    »Du hast mich über den Tisch gezogen.«
    »Unsinn!« Der Brigadegeneral lachte laut, der Vorfall bereitete ihm nicht als Ganzes, wohl aber in einigen Spitzen unwiderstehliches Vergnügen. »Du bist nicht auf der Höhe deiner

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