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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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niemals angegriffen. Die Durchführung des Angriffs widerlegt seinen behaupteten Grund.«
    »Der heilige Vater: Feigheit!«
    Hauser öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Diesmal hatte Alevs Stimme ihn um die eigene Achse gedreht.
    »Noch ein Beispiel«, sagte dieser von der Tür her. »Seit Jahren doktern Presse und Politik an den Ängsten der Bevölkerungen vor der EU-Erweiterung herum. Dabei lautet die einfache Antwort: Wenn die Osterweiterung in irgendeiner Weise nachteilig für uns wäre, würde sie nicht stattfinden. Politischer Altruismus - ein Oxymoron.«
    »Eigennutz«, rief Ada, »der heilige Sohn!«
    »Meine Frage«, sagte Alev, »lautet also: Cui bono? Wer braucht die ganze Humanzoologie, diesen aufgeblasenen Apparat aus Geschichts-, Politik- und Gesellschaftswissenschaften, wenn es doch nur darum geht zu verschleiern, dass die ganze Welt sich auf drei Prinzipien zurückführen lässt?«
    »Feigheit, Eigennutz, Dummheit«, sagte Ada eindringlich zu Hauser. »Und welche Disziplin des menschlichen Triathlons hat Sie zu uns geführt?«
    Es verstrich eine Kunstpause von drei Sekunden, Alev zählte sie beim Mittagessen an den Fingern ab, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
    »Was«, hatte Hauser schließlich in die Stille gefragt, »ist denn noch übrig?«
    Die Hälfte der Schüler war in Gelächter ausgebrochen und konnte sich schwer beruhigen, im Internat schlug man Löffel gegen die Teller. Hauser hatte, das Chaos ignorierend, ganz für sich ein paar Notizen in seinen Unterlagen gemacht. Ada und Alev lachten sich mit geschlossenen Mündern zu und schienen darauf zu warten, dass ein Vorhang fiele und sie den Blicken der Öffentlichkeit entzöge. Es sollte ihr vorletzter gemeinsamer Auftritt in der Öffentlichkeit gewesen sein.
    Wovon sie nichts ahnten. Dass Alev darauf verzichtete, den Epilog der Komödie in seine Berichterstattung am Mittagstisch aufzunehmen, war keinem unguten Gefühl, sondern allein der Tatsache geschuldet, dass man bereits zur Süßspeise überging und der letzte Akt sich dramaturgisch schlecht einbinden ließ. Er war von einem Dilettanten inszeniert.
    Hauser hatte einen Schritt auf Ada zu getan und sich doch anders entschieden, abgelenkt von Alevs Gravitationsfeld und von der Erwägung, dass er Schulbänke hätte überklettern müssen, um sich Ada von vorn zu nähern. Er hatte sich so dicht vor Alev aufgepflanzt, dass er von hoch oben auf ihn heruntersehen konnte.
    »Ich habe anderthalb Sekunden, um in Notwehr zurückzuschlagen«, zischte Alev durch die Zähne.
    »Es heißt«, hatte Hauser erwidert, »Sie würden nicht mehr lange unter uns weilen, jedenfalls nicht als Schüler dieser Anstalt. Ich beginne zu begreifen, woraus das Ondit sich speist, und bedauere im Voraus, einen so ausgesucht cleveren, um nicht zu sagen, aufdringlich klugen Kopf zu verlieren.«
    »Danke untertänigst für die Kondolenz«, hatte Alev geantwortet und Mund und Augen zu einem wahrhaft geometrischen Grinsen aufgerissen, unflätig, dreist, alles verachtend wie ein böser Clown. Ende der Szene.
    Die verbleibenden Stunden bis siebzehn Uhr schlugen sie auf Alevs Zimmer tot. Während Alev sonst immer darauf achtete, auf getrennten Wegen und in vollkommener Heimlichkeit zur Turnhalle zu gelangen, hatte er heute Bastian, Grüttel und Toni zu sich eingeladen. Festlich saß man im Kreis und ließ einen Joint zirkulieren. Die gehobene Stimmung steckte Ada an, die keine Ahnung hatte, was es zu feiern gab. Um zwanzig vor fünf näherte Alev seine Lippen ihrem linken Ohr und fragte, ob sie ihre Sportsachen dabeihabe. Mit dem Armeerucksack auf der Schulter verschwand sie in der Großraumdusche am Ende des Flurs und kehrte nach wenigen Augenblicken in Laufhose und T-Shirt zurück.
    Im Treppenhaus tat das Cannabis ein Stück seiner Wirkung, sorgte für Luftkissen unter den Fußsohlen und brachte Ada dazu, sich selbst für eine Metapher zu halten, allerdings ohne zu wissen, für was sie stand. Auf dem Treppenabsatz des dritten Stockwerks blieb sie stehen.
    »Smutek hat mir einmal erzählt«, sagte sie, »dass er beim Sex mit seiner Frau in Phantasien schwelge, in denen weder er noch sie einen Auftritt haben. Er denkt an fremde, namenlose Gesichter mit verzerrten Mündern und rollenden Augen. An junge Mädchen mit auffallend großen Brüsten.«
    »Du bist ein junges Mädchen mit auffallend großen Brüsten.«
    »Ich bin aber nicht gemeint. Ist das nicht seltsam?«
    »Nein. Alle denken beim Sex an etwas anderes.

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