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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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versuchte, ihr den Stift wegzunehmen, stieß sie ihr grob die Hand zur Seite. Schon wieder liefen Tränen, aber es waren nicht die gleichen wie sonst, sie besaßen eine andere Form und Farbe, rannen langsamer, waren größer und trugen Schmerz in sich, keine Wut und keine verletzte Eigenliebe.
    »Es ist die Wahrheit«, sagte Ada. »Deshalb schreibe ich es auf.«
    Gebührenden Sicherheitsabstand zum Stift wahrend, begann die Mutter, ihr über das Haar zu streichen.
    »Ich liebe dich«, sagte sie. »Vielleicht weißt du nichts davon. Aber ich weiß, dass du das Geld nicht gestohlen hast.«
    »Und als du neulich mein Zimmer durchwühlt hast«, sagte Ada, ohne dass die Bewegung des Stiftes ins Stocken geraten wäre, »wusstest du da auch, dass ich nichts getan hatte?«
    Es gab ein fast unhörbares Geräusch, ähnlich dem Reißen dünner Seide. Dann klappte die Mutter lautlos zusammen. Der Brief war fertig, Adresse und Aktenzeichen fanden sich im Fax des Brigadegenerals. Ada suchte Umschlag und Marke und nahm das Schreiben mit, um es selbst einzuwerfen. Als sie den Raum verließ, hatte die Mutter sich nicht gerührt. Sie lag mit dem Oberkörper über der Tischplatte, die Augen offen, den Kopf in die Arme gestützt. Sie weinte nicht mehr. Sie sah aus, als träumte sie ohne besonderen Affekt vor sich hin. Es war etwas geschehen, das Ada nicht gewollt hatte. Es betraf die Mutter, und es betraf den Brigadegeneral. Sie hoben sich gegenseitig auf. Etwas war zu Ende gegangen und bestätigte die alte Vermutung, dass man seine Eltern nicht mitnehmen kann, nirgendwohin. Sie bleiben dort, wo man sie vorgefunden hat, als man langsam das Bewusstsein erlangte. Sie werden kleiner und kleiner, als stünden sie mit hängenden Armen hinter einem abfahrenden Zug, dem nachzuschauen ihre einzige Freude, ihr Schmerz und Laster geworden ist. Als Ada die Zimmertür so vorsichtig wie möglich hinter sich schloss, wusste sie, dass sie in Zukunft mit diesem Bild zu leben hatte. Es war ein Totschlag durch Vergessen, und wir werden von der Mutter und vom Brigadegeneral fortan nichts mehr zu hören bekommen.
    Geplatzter Freitag
    D en weichen freitäglichen Fisch in durchfeuchteter Panade teilten sie wie Bruder und Schwester. Mit aneinander gepressten Ellenbogen aßen sie vom selben Teller und nahmen reichlich Mayonnaise und Salzkartoffeln, um satt zu werden. Unangemeldete Gäste wurden von der Internatsküche mit Freundschaft behandelt, bekamen aber keine eigene Portion.
    Alevs gute Laune hatte sie zu zweit die Treppe hinaufgetragen und noch vor dem Essen aufs Zimmer getrieben, um sich dort ein paar Zeilen aus dem Buch, das Alev gerade las, zu Gemüte zu führen: »Kennst du das Gefühl, wenn man plötzlich feststellt, dass es völlig hirnrissig ist, etwas für andere Menschen zu tun, weil man selbst ein Mensch ist und deshalb weiß, wie wenig sie es verdienen? Kaum hat man das erkannt, bricht der Sinn jeglicher Beschäftigung in sich zusammen, und alles, was man fortan unternimmt, kann nur noch als Teil eines Spiels geschehen. Die Christen waren schlicht Pragmatiker mit ihrem >Liebe deinen Nächstem. Nur das >wie dich selbst< hätten sie weglassen sollen.«
    Ada verstand nicht, ob er damit zur täglichen Erziehungsarbeit beitrug, die sie zu einem vollwertigen Mitglied ihrer ZweiMann-Gesellschaft machen sollte, oder ob er wieder einmal glaubte, die Stimme eines weiteren Mitglieds der göttlichteuflischen Kollektivexistenz erkannt zu haben. Er hatte ihr keine Zeit gelassen, darüber nachzudenken, war mit ihr an seiner Seite in den Speisesaal gewirbelt und unterhielt während der Mahlzeit die versammelte Mannschaft mit einer Schilderung des Hauser-Disputs vom Vormittag.
    Zwei Monate lang hatten verschiedene Vertretungskräfte im Leistungskurs Geschichte ein Gastspiel gegeben. Hauser war neu, Geschichtslehrer auf Probe, und versuchte gar nicht erst, Höfi zu ersetzen. Gleich zu Anfang erklärte er, dass er erstens ein eigenes fachliches und didaktisches Konzept verfolge, es ihm zweitens nicht das Geringste ausmache, hinter seinem Rücken Kaspar Hauser genannt zu werden, und die Schüler, drittens, wenn sie sich trauten, auch gleich jetzt damit anfangen könnten. Den Namen des Mädchens, das fragte, wer Kaspar Hauser sei, trug er ins Klassenbuch ein. Er war ein ruhiger Mann, der weder geliebt noch gefürchtet werden wollte.
    »Ich werde Sie zu Tode langweilen«, sagte er. »Sie müssen mir trotzdem zuhören, weil Sie sich sonst den Abitursdurchschnitt

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