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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Reisverschluss seines Sportpullovers gerichtet, um nicht zur Werkzeugkammer hinüberzusehen, deren Tür angelehnt stand. Von dort roch es nach alten Medizinbällen, Magnesium und abgestelltem Rasenmäher. Niemand befand sich darin, und trotzdem hatte Ada mit dem Pollenflug einer Paranoia zu kämpfen.
    »Als ich so alt war wie du, als du so alt warst wie ich«, sagte sie, »war ich ein saturierter Kuhfladen unter vielen anderen saturierten Kuhfladen, und niemand von uns konnte sich daran erinnern, aus dem Arsch welcher Kuh er gefallen war. Tag und Nacht atmeten wir den Gestank unserer eigenen inhaltsleeren Besorgnis und hielten uns deshalb für unglücklich.«
    Smutek stieß sich von der Glasscheibe ab und riss die Tür zur Werkzeugkammer auf. Nachdem er kurz hineingesehen hatte, fand er den passenden Schlüssel am Bund und drehte ihn zweimal im Schloss. Schnell kam er zurück und suchte die identische Position, in der er gestanden hatte. In Adas Gesicht gingen die Lichter an, sie strahlte zu ihm hinauf, klein wie ein Hydrant. Auch er fürchtete also, wenn sie zusammenstanden, die Gegenwart eines freischwebenden Augenpaars, auch er fühlte den kalten Blick einer Linse.
    Smutek verstand ihre Freude nicht und empfing ihr Lächeln als zufälliges Geschenk. Er war dabei, ein Rätsel zu lösen, das ihn seit dem Vormittag beschäftigte und das vielleicht nicht den Sinn, wohl aber den Inhalt der menschlichen Existenz betraf. Ein Großteil des Daseins verging mit Warten, während der Lebensweg im Rückblick aus einer nahtlosen Kette von Ereignissen bestand. Aus dieser Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart entstand ein Störgeräusch, das Sehnsucht hieß und Smutek in diesem Augenblick zugleich schrecklich und wunderbar erschien. Er wurde das Gefühl nicht los, dass es Ada war, die ihm solche Ideen eingab. Flach streckte er beide Hände aus, und sie legte die ihren wie rechtmäßige Anteile einer Beute hinein. Er griff nicht zu, sondern trug die kleinen, hellen Körperstücke leicht in der Luft. Etwas Feierliches breitete sich aus. Sie befanden sich in einem Zwischenraum. Wenn sich nicht bald etwas Besonderes ereignete, würde niemand sich an diesen Moment erinnern können. Eine unerträgliche Vergeudung. Smutek stand kurz davor, etwas Wichtiges zu sagen.
    Ada wusste, um welchen Satz es sich dabei handeln würde, denn sie hatte eben erst etwas Ähnliches gedacht: Unter anderen Bedingungen hätten wir es schön miteinander haben können. Derartige Gedanken kamen vorbei wie ein Windstoß an einem schwülen Nachmittag, besaßen wie jener Ursachen, die sich von jedem Experten bei Kenntnis aller Umstände berechnen ließen, und berechtigten dennoch zu keiner Prognose, ja nicht einmal zu einer Aussage über das, was hinter ihnen lag. Sie hatten nichts zu erzählen und kündigten nichts an, sie waren weder Vorboten noch Nachhut, weder Zeugen noch Pressesprecher eines Glücksfalls oder einer Katastrophe. Sie waren die Spucke nicht wert, um sie über die Lippen zu bringen.
    »Behalt es für dich«, erwiderte Ada seinem schwangeren Schweigen. »Es ist nicht wahr, und selbst wenn es wahr wäre, machte es keinen Unterschied.«
    Halb hatte sie erwartet, er werde sich abwenden und gehen, er aber ließ ihre Hände los, dass sie herabfielen, als wirkte der Schwerkraft kein Leben entgegen, wischte ihr die spröden Reden vom Mund und küsste sie lachend, und weil sie ebenfalls lächeln musste, stießen ihre Schneidezähne hart aneinander. Er küsste wieder und wieder, bis da Lippen waren und Wärme und ein bisschen Druck. Beide schmeckten sie salzig und feucht wie frisch an Deck gezogener Fisch. Keiner von ihnen schloss die Augen. Smutek fühlte, ihre Gestalt vermessend, die Wirbelsäule hinab über Hüften und Hintern bis zu den Schenkeln und krümmte sich affenartig zusammen, um noch die Kniekehlen mit langen Armen erreichen zu können. Ada war am ganzen Körper kalt wie eine Amphibie.
    »Du musst unter die Dusche«, sagte er, sich zu voller Höhe aufrichtend.
    Ohne ein weiteres Wort steuerte sie die Schülerumkleide an, zerrte Handtuch und Shampoo aus dem Rucksack und stellte sich unter das heiße Wasser. Bei zurückgelegtem Kopf floss ihr das Haar lang über den Rücken. Das war die zärtlichste Berührung der Welt.
    Als sie sich wenig später vor der hereinbrechenden Dämmerung verbeugte, um in ihre Jeans zu steigen, war Smutek plötzlich im Türrahmen, die Haare nass, das knappe T-Shirt in den Bund einer frischen Sporthose

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