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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gesteckt, dass es über den wohldefinierten Bauchmuskeln spannte. Er hielt den Kopf schräg und lächelte wie ein Junge aus der Werbung für Energy-Drinks. Erschrocken wandte Ada sich ab, schnürte ihre roten Turnschuhe zu und streichelte dabei das weiche Leder mit den Fingerspitzen. Als sie wieder auftauchte, stand er immer noch dort. Er hatte schöne Zähne. Eine Weile schaute sie ihm beim Lächeln zu, dann verschwammen ihr die Augen vor der Welt.
    »Was«, fragte sie, »würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass ich manchmal gemahlenen Pfeffer über eine heiße Herdplatte pudere, den Sternbildern aus verglühenden Körnern zusehe und den Duft in die Nase sauge, weil es so riecht, als würde ab und zu jemand für mich kochen?«
    »Wahrscheinlich würde ich gar nichts sagen. Mein Magen wäre mit Blei ausgegossen.«
    »Siehst du«, sagte sie. »Kein einziges Pfefferkorn habe ich jemals auf eine Herdplatte geworfen. Es bedarf nur einer Hand voll Wörter, um dich glauben zu machen, dass du mich liebst. Verstehst du?«
    »Aber sicher«, sagte er. »Sprache ist Antriebsmotor, Inhalt und kunstvolles Ergebnis unserer seltsamen Welt. War mir auch schon aufgefallen.«
    »Verzeih. Man vergisst leicht, dass du Deutschlehrer bist, der Beruf haftet nicht besonders gut an dir. Ständig hat man das Gefühl, dir etwas erklären zu müssen.«
    »Das Schöne ist«, sagte Smutek geheimnisvoll, »ob du die Wirklichkeit Illusion, Schattenboxen oder Sprachspiel nennst, macht, mit deinen eigenen Worte gesprochen, nicht den geringsten Unterschied.«
    »Schön scharf schießt Smutek sprachliche Schrapnelle!«
    Seit drei Minuten hatte sie ihm kein einziges Mal aufs Kinn oder zwischen die Augenbrauen geschaut.
    »Absurdes Addendum: Alarmiert ahnt ausgerechnet die adorable Ada allumfassende Adiaphora.«
    Sie hatte ihn nicht verstanden, aber die Sätze machten so viel Spaß, dass sie zappelig wurde, als bestünde sie nur noch aus Armen und Beinen. Als kurzfristige Leihgabe erhielt sie ihre Kinderstimme zurück, die nach Kettenkarussell und ungemähten Wiesen klang.
    »Fakt und Binsenweisheit ist«, rief sie, »dass es keine Wirklichkeit gibt außerhalb unseres Vermögens, sie zu beschreiben! Deshalb liegt es in unserer Macht, einander zu retten.«
    Smutek fing sie ein, fesselte ihr mit seiner großen Faust die Handgelenke zusammen und spürte zum zweiten Mal dieses seltene Lachen unter den Lippen: gespannte weiche Haut und das saubere Porzellan junger Zähne.
    »Ich meinte nicht unbedingt dich und mich«, korrigierte sie, kaum freigekommen, »sondern die Menschheit im Allgemeinen.«
    »Klar«, sagte er. »Die Menschheit im Allgemeinen schließt uns beide nicht ein.«
    Kurz geriet sie aus dem Tritt, ihr Gesicht schloss sich wie ein Theatervorhang und öffnete sich sogleich wieder von neuem. Alle Schauspieler auf die Bühne.
    »Was ich eigentlich sagen will, ist, dass du dir weniger Sorgen machen solltest. Ich habe beschlossen, dich da rauszuholen.«
    »Raus?« Mit einem Schlag war er ernst geworden. »Wo raus?«
    Als sie ihren Rucksack vom Boden riss und davonlief, versuchte er nicht, sie zurückzuhalten. Hätte er ein Tagebuch geführt, folgender Eintrag wäre zu vermerken gewesen: Pankratius, früher Abend. Heute haben wir das erste Mal miteinander gesprochen.
    Der Gedanke an ausgedachte Pfefferkörner auf der Herdplatte, an Errichten, Vernichten, an Adiaphora und die verschiedenen Gesichter der Wirklichkeit wollte Smutek so schnell nicht wieder verlassen. Während der nächsten Stunden folgte er ihm, umstrich seine Beine, stupste ihm die Nase in die Kniekehlen, entfernte und näherte sich und blieb immer in Sichtweite, ganz Haustier, ganz Quälgeist und Kuschelwesen, und Smutek wartete auf die Nacht und die erste Gelegenheit, ihn zu vertreiben.
    Pankratius, in der Nacht
    E r hatte mit seinem Schneewittchen, das von Tag zu Tag außer Reichweite seiner Hände ein regeres Eigenleben führte, zu Abend gegessen, er hatte ihre neu erblühende Schönheit aus der Ferne bewundert wie die traurige Perfektion des Titelmädchens auf einem Magazin, er hatte dem kryptischen Geplauder von vormittäglicher Laborarbeit, Weltpolitik und dem aktuellen Kinoprogramm gelauscht und dessen Urheberin um halb elf zu Bett gebracht. Dort hatte er stumm auf der Kante gesessen und jedes Mal gelächelt, wenn sie die Augen wieder aufschlug, bis sie nach vorausberechneten zwanzig Minuten in Tiefschlaf verfiel. Beim Verlassen des Zimmers hatte er das Apfelstück in der

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