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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Eingang in Einsteins Relativitätstheorie gefunden haben. Siehe Einstein.«
    »Woher weißt du, dass ich in einer lang vergangenen Epoche Physik studieren wollte?«
    »Das wusste ich nicht. Vielleicht hast du mal über Raum und Zeit gesprochen.«
    Rhythmisches Atmen zerteilte jeden Redebeitrag in Viervierteltakte.
    »Wie wär's mit - Szymon Smutek - 1965 bis 2005 - Deutschlehrer polnischer Herkunft - entwickelte eine scheiternde -Moraltheorie, verübte - an seinem vierzigsten Geburtstag -Selbstmord in Haft?«
    »Du arbeitest an einer Moraltheorie?« »Noch nicht. Aber wenn es so weitergeht, wird mir nichts anderes übrig bleiben.«
    »Du wirst nächstes Jahr vierzig?«
    »Findest du das zu alt?«
    Adas Augen waren blank von Spott, als sie innehielt und den Blick zu ihm aufhob.
    »Du hast schon wieder Angst. Das ist immer ein Fehler.«
    »Glaub mir, Ada, du hättest auch Angst an meiner Stelle.«
    »Du irrst, Herr Smutek, wie immer. Du glaubst, dasselbe Gefühl sei in zwei verschiedenen Menschen reproduzierbar. Dem ist nicht so. Es gibt keine Gemeinsamkeiten, nicht einmal in der Angst. Und schon gar nicht zwischen dir und mir.«
    »Darüber müsste ich vermutlich froh sein.«
    »Mit Sicherheit sogar.«
    »Lass uns rausgehen. Wärmer wird es heute sicher nicht mehr. Höchstens kälter.«
    Der Nebel füllte das Rheintal bis unter den Rand, packte Häuser, Bäume und Laternenmasten in Watte, dass jedes Ding vereinzelt stand und sich auf nichts bezog als auf sich selbst. Es gab keine Stadt mehr, sondern nur noch eine Ansammlung von Gegenständen auf abgrenzbarem Gebiet. Sie trabten los, der Wind schnitt ihnen den Atem in Scheiben vom Mund und bot eine metallkalte Luftmenge dafür, die sie mit gestreckten Hälsen wie Schwertschlucker in die Lungen zwängten. Das lange Gras an der Böschung war flussaufwärts gestriegelt, die Halme trugen Blütenkronen aus winzigen Wassertröpfchen, an ungeschützten Stellen zu filigranen Kristallgebilden gefroren. Eine Birke stand starr mit erschrocken abgespreizten Ästen, jeder Zweig und jedes Blatt von Eis überzogen, als habe eine große Hand sie ausgerissen, in Plexiglas getaucht und wieder in den Boden gesteckt. Ein solcher Tag würde keinen Platz in den Archiven der Menschheitsgeschichte erhalten, weil nichts Besonderes geschah, weil niemand Wichtiges gezeugt, geboren oder getötet, nichts erfunden, nichts zerstört, nichts Wesentliches gedacht oder gesagt worden war. Das Gros der Menschheit verließ die geschlossenen Räume nicht und verschob alles Wesentliche auf ein andermal. Niemand würde sich an so einen Tag erinnern können.
    Adas Redelust war einem Schweigen gewichen, das, anders als früher, keine Mauern gegen Smutek errichtete, sondern sich faltenlos bis zu den eng sitzenden Nebelhorizonten erstreckte und der surrealen Wirklichkeitsskizze als Soundtrack diente. Zu allen Seiten lag das Ende der Welt in greifbarer Nähe. Der Wind legte ihnen die Haare glatt an die Köpfe, kühlte und wusch die schwitzenden Körper. Sie waren ganz auf sich gestellt, sie teilten Kraft und Bewegung wie Pferde im Galopp über ein zaunloses Gelände.
    Es gab keine Trauzeugen. Keine Mithörer ihrer tonlosen Vereinbarungen. Niemand, nicht einmal Ada und Smutek selbst würden jemals erfahren, worauf sie sich beim Ablaufen dieser zwanzig Kilometer geeinigt hatten, wo und wie ihre Wünsche und Befürchtungen einander begegneten, welcher Art die Schnittmenge war, in der sich irgendein Blau und irgendein Rot zu irgendeinem Violett übereinander schoben. Als sie wieder auf den Weg zum Schulpark einbogen und die Steinstufen hinauf zur Bastei in trippelndem Laufschritt nahmen, sah ihnen der große, alte Notar Zukunft über die Schultern und verschwieg, ob er seinen Stempel unter ihr Abkommen drücken wollte oder nicht.
    Smutek verriegelte die Turnhalle und lehnte sich von innen gegen die Tür, die aus würfelgroßen Glaskästchen in einem feinen Drahtnetz bestand. Ada hatte Reif auf den Wimpern, den die Heizungsluft zum Schmelzen brachte. Nach einem solchen Lauf musste jedes beliebige Wort deplaziert klingen. Smutek nahm die Bürde auf sich.
    »Meine Eisheilige«, sagte er lächelnd, »meine kalte Sophie.«
    »Pansophie kannst du mich nennen, wenn überhaupt.«
    »Als ich so alt war wie du«, sagte er, »lebte ich in einem kommunistischen Land, lernte unter Anleitung der Großen, die Welt zu hassen, und hielt mich für glücklich. Ist das nicht merkwürdig?«
    »Nein.«
    Sie hatte die Augen auf den

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