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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sie mit ihren Wurfsendungen soeben die Schlussakkorde der Ouvertüre angeschlagen. Eingeleitet durch Alevs Subdominante auf die Töne Alles - wie - immer, hatte Ada in einem gewaltigen, auflösenden Dreiklang das Vorspiel beendet. Ich -will - nicht. Nach einem spannungsvollen Durchatmen würde das infernalische Aufbrausen des ersten, richtigen Aktes folgen.
    Sie hatte den Zettel geglättet, sorgfältig gefaltet und im Hausaufgabenheft verwahrt. Alev sah wirklich überglücklich aus.
    Das war gestern gewesen. Pankratius wirkte nicht wie eine Opernfigur. Falls hinter Kältenebel und Wolkenwettrennen die ersten Takte ertönten, begannen sie in Piano und Dolcissimo. Auf dem Schulweg spürte Ada die Nähe des kleinen, kalten Körpers, der im Alter von vierzehn Jahren enthauptet und den Hunden zum Fraß vorgeworfen worden war. Seit seiner Hinrichtung, die er schweigend ertragen hatte, rächte Pankratius die Dummheit und Lügen all jener, die nicht einsehen wollten, dass man nichts wissen konnte, wenn man nichts glaubte, weil jeder wahren Aussage ein Glauben zugrunde liegen musste. Mit seinen vierzehn Jahren war er der härteste von allen. An der Treppe zum Hauptgebäude von Ernst-Bloch entließ er Ada widerwillig aus seiner frostigen Umklammerung und hauchte ihr zum Abschied ins Ohr: Schwester, du bist nicht viel älter als ich, sei ebenso kalt. Sie wollen, dass du abschwörst. Sie wollen deinen Kopf. Du wirst überdauern. - Ada in ihrem desolaten inneren Zustand verstand ihn nicht. Heftig rieb sie sich die Ohren und lief die Treppe hinauf.
    Nach einer Doppelstunde bei Hauser, der mit der Bescheidenheit eines berufsmäßigen Statisten vor der Tafel stand und seinen Unterricht frontal ins Schülermeer verklappte, geriet Ada an die Schwelle zur Depression. In der Pause trieb sie sich auf dem Flur herum, weil die unbestimmte Betriebsamkeit zu ihrem Geisteszustand passte. Sie erschrak zu Tode, als ihr eine Hand auf die Schulter fiel.
    Er hatte sie vermisst. Er hatte nicht gewusst, dass man von Freitagen wie von einer Droge abhängig werden konnte. Er hatte sich nur einen halben Tag lang gefreut, dass das letzte Treffen geplatzt war, dann hatte Panik Besitz von ihm ergriffen. Er war bereit zu betteln, zu zahlen, zu zwingen.
    Nichts davon war notwendig. Reflexartig gehorchte Ada den Bitten seiner Hände, als er den Kartenraum aufschloss und eine menschenleere Sekunde nutzte, um sie hineinzudrängen. Kaum war der Schlüssel von innen umgedreht, dröhnten wieder Schritte auf dem Gang, so laut, als liefen sie mitten zwischen ihnen hindurch. Mit den Karten in dieser Kammer ließ sich die ganze Welt an die Wände tapezieren. Sie steckten als mannshohe Papierrollen in Tonnen, lehnten, auf Rahmen gespannt, in eckigen Behältern, hingen rissig von schlecht verschraubten Metallständern. Es blieb kaum Platz für zwei stehende Personen. Sie klammerten sich aneinander, damit sie, umzingelt von Gegenständen, das Gleichgewicht nicht verlören.
    Smutek war gereizt und fahrig, seine Haut war am ganzen Körper heiß wie im Fieber. Nachdem er das ganze Wochenende lang an Ada gedacht hatte, war ihm eingefallen, dass es sich um ein krankhaftes Begehren handeln musste, das nur in der Erpressung lebte wie ein Irrer in seiner Gummizelle. Dann wäre es ihm in Alevs Abwesenheit unmöglich, Ada auch nur anzurühren, es würde ihm absurd, verdorben, schlichtweg unerträglich erscheinen. Sobald er das herausgefunden hatte, wollte Smutek sich selbst als Kranken betrachten, Heilung suchen und alles daransetzen, in jene Welt zurückzukehren, in der er morgens aufstehen und zur Schule gehen und Smutek der Deutschlehrer sein durfte. Er wollte es wissen. Er war bereit, beinahe alles für dieses Wissen zu tun.
    Er drehte Ada um, öffnete von hinten Knopf und Reißverschluss ihrer Jeans, trat die roten Turnschuhe an den Fersen herunter und zerrte ihr den widerstrebenden Hosenstoff von den Beinen. Er erkannte die Unterhose mit dem hellblauen Muster und glaubte für einen Augenblick, schon vor der Startlinie an einem Turnhallen-Deja-vu zu scheitern. Gleich darauf griff seine Rechte nach vorn und fand Adas Brüste unter dem Winterpullover. Smutek spuckte auf die Finger, befeuchtete Adas innere Lippen und schob sich so vorsichtig, wie die Eile es zuließ, in sie hinein.
    Natürlich ging es. Erst so gut wie immer, dann besser. Natürlich hatte er das gewusst. Smutek lachte leise über den feinen Betrug, den er an sich selbst begangen hatte, und der Hass verdoppelte

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