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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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völlig klar, wer ihr einen solchen auszuborgen hatte.
    Die Wohnung war totenstill wie an jedem Morgen seit Eingang der formlosen Mitteilung, dass das Ermittlungsverfahren gegen einen hohen Beamten des Verteidigungsministeriums nach Paragraph 170 der Strafprozessordnung mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sei. Kaffee- und Müslilöffel, die Ada beim Nachdenken von sich geschoben hatte, dienten einer schneeweißen Morgensonne als konkave Spiegel und lenkten einen gebündelten Strahl direkt in ihre geöffnete Pupille, als sie sich vorbeugte, um bei angehobenem Gesäß das Mobiltelefon aus der Hosentasche zu ziehen. Sie musste ein paar Sekunden warten, bevor sie das schwach leuchtende Display erkennen konnte.
    Sag ihnen, du seiest krank. Ich warte um halb neun unter der Südbrücke auf dich.
    Im gleichen Moment hing Smutek aus dem Fenster und schützte die Augen mit der Hand, um seinem Schneewittchen nachzuschauen, das in wollgrauem, scharf tailliertem Winterkostüm und kniehohen Lederstiefeln, mit offenem Rabenhaar und einer braunen Tasche über der Schulter zur Straßenbahnhaltestelle lief, sich an der Ecke noch einmal umdrehte und zu ihm hinaufwinkte. Diese Geste war ein Relikt aus alten Zeiten, als Frau Smutek morgens allein aus dem Haus gegangen war, um den gemeinsamen Lebensunterhalt zu verdienen, und galt noch heute der Nachbarschaft als Beleg für die Möglichkeit eines glücklichen Zusammenseins von Mann und Frau.
    Kaum war sie um die Ecke verschwunden, piepste es in seiner Hosentasche, und weil er die Hand von den Augen nehmen musste, um nach dem Telefon zu greifen, erwischte eine Lichtkartätsche seine Pupillen, an jener Stelle durch die Baumkronen gezielt, an der in der vergangenen Nacht Adas Traumgesicht gehangen hatte. Blind trat er zwei Schritte zurück und riss dabei mit dem Ellenbogen ein Grüppchen lilafarbener Primeln von ihrem Podest, die im Holzschuh eines polnischen Zwangsarbeiters wuchsen. Einst war ein nackter Fuß darin bei dreißig Minusgraden aufs Feld gegangen, um Autobahntrassen zu graben und große Steinplatten zu einer unendlichen Treppe zusammenzulegen, auf der Smuteks Volvo inzwischen viele Male schüttelnd und stoßend nach Osten gerollt war. Der Fuß hatte Frau Smuteks Großvater gehört.
    Während der Bruchteilssekunde, die der Fall der Primeln benötigte, dachte Smutek darüber nach, ob widerspenstige, deutschstämmige Großindustrielle tatsächlich zur Zwangsarbeit eingezogen worden waren. Ein solcher Schuh konnte ohne weiteres von einem der Berliner Märkte stammen, auf denen auch NVA-Uniformen, FDJ-Ausweise, Che-Guevara-Fahnen und, etwas abseits der Tapetentische, Hitlers schlecht geschriebenes Buch zum Kauf angeboten wurden. Frau Smuteks Familiengeschichte war zu einer echten Geschichte geworden: Sie funktionierte nur, solange man sie im Ganzen hörte und keine Fragen stellte. Das corpus relicti traf mit dem Absatz voran die drei mittleren Zehen an Smuteks nacktem Fuß, und der Schmerz knickte ihm die Knie und trieb Wasser aus den Augenwinkeln. Sekundenlang starrte er auf das Display seines Handys, ohne etwas zu erkennen. Dann hatte er verstanden und humpelte zum Endgerät seines Festanschlusses.
    Im Schatten der Brücke, hinter einer Sonnenbrille jenes Modells, dass Neo in der ersten Folge der Matrix getragen hatte, mit einer aufgetürmten Wollmütze, die dem Winterarsenal der Mutter entstammte, sah Ada aus wie ein anonymer Filmstar unter der Markise eines New Yorker Hotels. Sie ließ die Maskerade auch im Wagen an und sprach kein Wort, als bestünde Gefahr, in Smuteks Volvo abgehört zu werden. Die Welt war ein Dorf, ganz besonders in Bonn.
    Ada wartete am Wagen und folgte Smutek in einem Abstand von zehn Minuten ins Haus. Der Flur war mit bunten Kacheln ausgelegt, an den Wänden rankten sich aufgemalte Ornamente bis unter die Decke, und das einfallende Licht wurde durch geschliffene Glasscheiben in alle Farben des Spektrums zerlegt. Ada hatte nie darüber nachgedacht, dass es Behausungen gab, die weniger geräumig waren als die palastartigen Hallen im Godesberger Villenviertel, dafür aber zum Bleiben einluden. Nachdenklich stieg sie Treppen, bis sie auf eine angelehnte Tür traf. Die Wohnung dahinter roch nach frisch gemahlenem Kaffee. Smutek goss kochendes Wasser in zwei Tassen, rührte hurtig wie ein Barmixer und sah freundlich auf, als Ada, den Geräuschen folgend, die Küche betrat.
    »Jetzt schwänzen wir zusammen die Schule.« »Weißt du auch,

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