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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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die die Natur bereithält, wenn wir das Werben ernsthaft betreiben. Wir wissen, was es bedeutet, wenn aus Nomaden Partner werden. Dank dieser Vorkenntnisse muss nicht beschrieben werden, wie Smutek und Ada zueinander fanden, nachdem er sie auf der Sofakante entkleidet hatte und vor ihr in die Knie gesunken war. Wir können sie unbeobachtet lassen und uns darauf beschränken, eine wichtige halbe Stunde mit abgewandtem Blick für die Ewigkeit zu balsamieren.
    Um Punkt zwölf klingelte Smuteks Wecker. Längst saßen sie angekleidet am Küchentisch, die zweite Kaffeetasse war abgewaschen, getrocknet und im Schrank verstaut, das Patch-work glatt gestrichen, Adas Parka, Mütze und Brille lagen an der Tür bereit. Diesmal ging sie zuerst und betrachtete in Smuteks spiegelnder Heckscheibe zehn Minuten lang unverwandt das eigene Gesicht, bis er ihr die Beifahrertür öffnete und sie auf dem Sitz verstaute.
    Schmerz saß im Mundwinkel und begann dort zu zittern. Draußen liefen Grundschulkinder unter Dampfatembannern fröhlich nach Hause. In kleinen Supermärkten verkauften Männer Waren an Frauen. Hunde ließen ihren Urin an Häuserecken und Laternenmasten abwärts rinnen. Für ein paar Minuten arbeitete Adas Herzschlag als Metronom der gesamten Lebensmusik.
    »Wenn das hier nicht mehr wäre«, sagte sie zu Servatius, »bliebe nichts. Außer Alev und Smutek habe ich niemanden, nicht einmal mich selbst.«
    »Klingt traurig«, sagte Smutek von weit her. »Ich dachte, du gehörst zu jener Generation, die einen Herzschrittmacher braucht, um ein menschliches Gefühl zu erzeugen?«
    Mit einem heftigen Kopfschütteln kehrte sie zu ihm zurück und hatte das Visier der Blasiertheit schon wieder über das Gesicht geklappt.
    »Das ist grundsätzlich richtig. In den neunziger Jahren wäre ich magersüchtig oder drogenabhängig geworden. Wahrscheinlich beides.«
    »Und was wirst du im Jahr 2004?«
    Sie zuckte die Achseln. Licht und Schatten überquerten ihren Körper mit fünfzig km/h. »Vielleicht gibt es dafür noch kein Wort. Lass uns abwarten, was die Leute in zehn Jahren darüber sagen werden.«
    Als eine Hand sie an der Schulter berührte, fiel ihr auf, dass der Wagen am Anfang der Straße hielt, in der sie wohnte.
    »Das war der schönste halbe Tag, den ich seit langem hatte«, sagte Smutek. »Sehen wir uns morgen?« Sie verließ das Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Do widzenia, meine Kleine!«, rief er ihr hinterher.
    Servatius, Nachmittag
    A m Nachmittag hatte Servatius seine gute Laune restlos verbraucht, im Haushalten und Einteilen war er nie gut gewesen. Die Himmelsmiene verfinsterte sich und drohte mit Hagel und Wind. Der Schulhof lag leer gefegt, das Maigrün der Bäume wirkte schmutzig im gesiebten Licht. Im Schreck hatten die Häuser die Menschen eingeatmet, hinter einigen Fenstern gingen die Lichter an. Dicht unter der Wolkendecke leuchtete das oberste Stockwerk der Festung Ernst-Bloch als betriebsamer Kopf auf einem schwer ruhenden Körper und bemerkte nicht, dass ein Wesen ihm einen Generalschlüssel in die Ferse bohrte. Ein paar Sekunden lang glaubte Ada, Smutek habe sie geprellt oder versehentlich einen falschen Schlüssel vom Ring gelöst, dann griffen die Sicherheitszähne, und die Hintertür schwang auf. Der Physiksaal lag tief im Bauch des Bauwerks. Obgleich es zwischen den starken Mauern keinen Grund zum Schleichen gab, setzte Ada so bedächtig Fuß vor Fuß, als ob sie befürchtete, bei einem derart peinlichen Vorhaben könnten selbst Steinstufen zu knarren beginnen.
    Ein leeres Schulgebäude gleicht seinem alter ego der Vormittagsstunden so wenig wie eine Leiche dem lebendigen Menschen. Die vertrauten Räumlichkeiten empfingen Ada mit lauerndem Schweigen. Dunkle Holztäfelung, die vormittags hinter Schlurfen und Schlendern, Hetzen und Gerangel verschwand, beherrschte die Atmosphäre auf der naturwissenschaftlichen Etage mit massigem Braun und legte sich als grundlose Beklemmung auf die Atemwege. Hoch unter der Decke traten ausgestopfte Eulen, ein Adler mit erbeuteter Schlange und ein grinsender Keilerkopf aus den Ecken hervor und beugten sich forschend über die Besucherin. Auf Glasregalen stand alles Mögliche in Formalin. Ada dichtete einen großen Glaskolben hinzu, in dem Olafs abgetrennter Kopf in klarer Flüssigkeit lagerte.
    Nichts von dem, was in den letzten Monaten geschehen war, hatte ihre Ehre berührt. Das Einschleifen ihres Körpers zum hetärischen Werkzeug, das permanente rhetorische

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