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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Sliding-Tackling zur Sabotage Smuteks moralischer Durchmärsche, die familiäre Realpolitik und der versuchte Mord an Olafs Unschuld hatten sich im äußersten Orbit ihrer Persönlichkeit zugetragen, waren immer gleich Vergangenheit und keiner Korrektur zugänglich gewesen. Berührt, geführt. Dieser zögernde Gang im Museumsschritt durch Ernst-Blochs verlassene Hallen jedoch fand im Hier und Jetzt statt. Es gab nur ein einziges, simples Wort für das, was Ada tat: Schnüffeln. In einem Film hätte an dieser Stelle die Musik ausgesetzt.
    Hinter der nächsten Ecke hörte sie Stimmen. Sie drangen durch die zweiflügelige Tür des Physiksaals, und als Ada lautlos auf ihren weichsohligen Turnschuhen davor zu stehen kam, waren sie verstummt. Ein leises Klappern. Ein weiblicher Seufzer, ein tiefer männlicher Atemzug. Stille. Ada erteilte kurz angebunden Befehle: Arm heben. Schlüssel vorsichtig ins Schloss schieben. Drehen. Klinke drücken. Die Tür ging nach innen auf.
    Lindenhauers mathematische Höhlenmalereien umrahmten den ganzen Raum. Sie nahmen ihren Anfang auf dem Tripty-chon der vorderen Tafel, setzten sich über die Ziegelwand fort, übersprangen die Fenster, meisterten auch die drei Holztüren an der rückwärtigen Seite, von denen eine die Chemiekammer verbarg, und kehrten über die Schiefertafeln an der langen Wand zum Ausgangspunkt zurück. Ada hatte erwartet, den Physiksaal leer und eine Kammertür angelehnt vorzufinden. Aber die Türen waren geschlossen und trugen in bröselnden Kreidezeichen jene Gauß'schen Mys und Sigmas, die von den Gesetzmäßigkeiten des Ungesetzmäßigen zu berichten wussten. Aus zehn Meter Entfernung betrachtete Ada die Insignien von Wahrscheinlich-keitsdichte und Limesfunktion, ignorierte das Drei-PersonenStandbild in der Mitte des Raums und dachte darüber nach, was Mathe-Wirger über die Stochastik gesagt hatte: Ihre exakten Aussagen galten nur für die fiktive Unendlichkeit, während die reale Endlichkeit von Fehlern wimmelte, deren zufälliges Auftreten sich wiederum nach bestimmten Regeln häufte. In Alevs spieltheoretischen Berechnungen hatten Abweichungen und ihre Normalverteilung keine Rolle gespielt. Er zählte auf die Unendlichkeit, auf den ewigen Fortgang der freitagnachmittäglichen Treffen, bei denen Ada die Rolle der liegenden Acht zu spielen hatte.
    Aber jetzt war Donnerstag, siebzehn Uhr dreißig. Ada sah sich selbst am äußeren, flach auslaufenden Rand einer Gauß'schen Kurve stehen und mit in den Nacken gelegtem Kopf den steilen Abhang der Dichtefunktion hinaufschauen, das Gelände einer reichlich unwahrscheinlichen, jedoch nicht ausgeschlossenen Abweichung unter den Füßen.
    »Unsere Musterschülerin«, sagte Lindenhauer freundlich.
    »Kommen Sie doch herein und unterstützen Sie mich dabei, diesen beiden Blindgängern die Grundbegriffe des delischen Problems zu erklären.«
    »Ich ...«, sagte Ada, »ich war gerade dabei, die Aussicht auf die Gauß'sche Formel zu genießen.«
    Lindenhauer folgte ihrem Blick zur Chemiekammertür. Trotz seines Alters wirkte er aufrecht und stark. Fast so groß wie Smutek, mit schmalem, rechteckigem Mathematikerschädel, feucht an den Kopf gebürsteten grauen Locken und dem tadellos sitzenden Anzug sah er aus wie die Hauptfigur aus einem der Genie-und-Wahnsinn-Filme, die während der letzten Jahre in Mode gekommen waren.
    »Ach das«, sagte er. »Das stammt aus dem Leistungskurs vom Vormittag. Sie glauben doch nicht, dass Ihre Kollegen hier sich für die Genialität einer so simplen Erkenntnis begeistern könnten?«
    »Hallo, Ada«, wisperte Odetta, die den Fenstern am nächsten saß und auf dem ungespitzten Ende eines Bleistifts kaute. Ihr Lächeln war zutraulich und schüchtern.
    »Na, Hydrozephalus«, sagte Alev mit diabolischem Grinsen. »Apparemment, j'ai une sensation de déjà-vu. Il en de même pour toi?«
    »Seit wann«, fragte Ada und sah nur Lindenhauer an, »geben Sie Nachhilfestunden in Mathematik?«
    »Seit ich von Ihrem Klassenlehrer darum gebeten wurde.«
    »Smutek hat Sie darum gebeten, sich mit Alev und Odetta zu treffen? Szymon Smutek?«
    »Meines Wissen nach«, erwiderte Lindenhauer, wobei ihm die Ironie fast aus den Mundwinkeln troff, »führen wir gegenwärtig nur einen Lehrer dieses Namens.«
    »Soweit ich es überblicke«, warf Alev ein, »hatte Herr Smutek in Anbetracht der Umstände gar keine andere Wahl. Er fühlte sich regelrecht gezwungen.«
    »Diese zwei Harlekine verfehlen sonst das Klassenziel«,

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