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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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fügte Lindenhauer hinzu.
    »Wir machen ein paar Kurvendiskussionen«, ließ Odettas Schlafzimmerstimme sich vernehmen. Über ihrer Brust spannte ein T-Shirt, das ihr eine Nummer zu eng war und eine klein gedruckte Aufschrift trug, die Ada aus der Entfernung nicht entziffern konnte. Beim Zuhören legte Odetta den Kopf schief wie ein Hundewelpe, so dass sich das lange blonde Haar auf der Tischplatte sammelte.
    »Et voilà tout.« Alev breitete in gestischem Triumphzug die Arme aus, berührte dabei Odettas Schulter und lachte mit geöffneter Kehle. »Überdies haben wir gerade französische Wochen. Es wird mehr geredet als gehandelt. Dürfte dir auch schon aufgefallen sein.«
    »Wenn ich die letzte Zeugniskonferenz richtig in Erinnerung habe«, sagte Lindenhauer, legte einen Finger an die Stirn und ahmte mit ein paar Schritten das autistische Hin und Her eines Dozententanzes nach, »stehen Sie bei der Göttin aller Wissenschaften auf Eins plus. Deshalb frage ich mich, was Sie hier zu suchen haben?«
    Sie hatten die Unterhaltung über sechs Bankreihen und zehn hallende Meter Physiksaal hinweg geführt. An diesem Punkt tat sich die Möglichkeit auf, mit einem flotten Spruch die neue Front zu durchbrechen, Papier und Stift zu erbitten und siegreich an einer Komödie teilzunehmen, als deren tragisches Opfer Ada andernfalls übrig bleiben würde. Für alles Weitere würde Alev sorgen. Mit Sicherheit hielt er längst ein passendes Drehbuch bereit, das die Möglichkeit vorsah, sich ohne Gesichtsverlust seinem Gefolge zum zweiten Mal anzuschließen. Ada bemerkte, wie der Zeigefinger seiner rechten Hand, die mit der Fläche nach oben auf der altmodischen Schulbank ruhte, hinter Lindenhauers Rücken die lockende Geste einer Hexe vollführte. Odettas lange Glieder lagen fromm in der vom Sitzpult vorgegebenen Haltung, die grünen Augen ruhten dunstig auf Adas Gesicht. Von dieser Seite standen keine Kämpfe zu befürchten. Hier gab es keine Kriegserklärung, nur Friedensangebote, die im Vorhinein jede Bedingung akzeptierten. Ada konnte nicht anders, als der Perfektion der Inszenierung Tribut zu zollen, und führte eine Hand an die Stirn: Chapeau.
    »Ich glaube«, sagte sie dann, »ich habe mich sozusagen in der Tür geirrt.«
    Alev zog den Zeigefinger ein und ballte die Hand zur Faust.
    »Pièce touchée, pièce jouée«, sagte er warnend. Berührt, geführt.
    »J'adoube«, antwortete ihm Ada, und zu Lindenhauer gewandt: »Entschuldigen Sie die Störung.«
    Sanft schloss sie die Tür, kräftig stieß sie den Schlüssel ins Schloss und drehte hörbar zweimal um. Die Treppe hinunter wurde sie von Alevs Gelächter gejagt, das ihr wie ein Ohrwurm im Kopf saß, lauter wurde, verstärkt von der Stille, die sie rennend durchschnitt, und erst verstummte, als Ada die Hintertür aufgestoßen und sich selbst ins Freie entlassen hatte.
    Hier war alles in Ordnung. Ein Graupelschauer schraffierte fast waagerecht die Luft, Blätter zitterten, Äste bogen sich in stummer Abwehr, prasselnd bespielten Eiskörner das steinerne Trommelfell des Schulhofs mit einer Ankündigungsmelodie für den Sommer der Windhosen und Gewitterkatastrophen. Ada fischte den elektronischen Außenminister hervor und trug ihm eine Nachricht für Smutek auf:
    Man sagt, deine Fürsprache habe den Physiker, die Schöne und Luzifer zusammengeführt. Wusstest du, dass die Gesetze der Mathematik immer und überall zum selben Ergebnis führen?
    Ob diese Botschaft jemals ihren Bestimmungsort erreicht hat, ist nicht bekannt. Eine Antwort ging nicht ein. Ada warf sich Servatius in die Arme und lief gegen den Wind nach Hause.
    Bonifatius, der Wohltäter
    W arum man ihn den Wohltäter nannte, war nicht einmal ihm selbst bekannt. Soweit es Überlieferungen gab, wusste er nichts von ihnen. Wenig wurde über ihn erzählt, an das wenigste konnte er sich erinnern, und neun päpstliche Namensvettern sowie der bonifäzliche Apostel der Deutschen machten die Verwaltung der eigenen Biographie nicht leichter. Als Knochenjäger hatte Bonifatius den Auftrag erhalten, im türkischen Tarsus nach den Überresten christlicher Märtyrer zu fahnden. Zurück in Rom, musste er erleben, wie seine gläubigen Auftraggeber unter der Folter des Kaisers Galerius zu leiden hatten. Aus Masochismus, Dummheit oder dem menschlichen Trieb, es immer mit den Schwachen zu halten, ließ er sich taufen und erduldete, durchaus nicht zum Märtyrer geboren, den Tod durch siedendes Pech.
    Sein Auftritt in diesem Jahr fiel

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